Flohkisten

In den ersten Jahren nach Kriegsende versuchte man so angenehm zu leben wir möglich, und das war, wie schon einmal bemerkt, in einer Viersektorenstadt gar nicht mal so einfach. Aber wenn man über die notwendige Portion Humor und Selbstverleugnung verfügte, war das gar nicht mal so schwierig,

Unser Vater war nach langer Krankheit zuhause gestorben, während ich mit meinem Bruder im anderen Zimmer saß und wir gerne zweistimmig alte Volkslieder sangen. Unsere Mutter saß in der Küche, trank Kaffee und las Zeitung, und dann sah sie mal nach Paulchen. Da war er ganz ruhig und friedlich eingeschlafen. Für unsere Mutter war es ein großer Verlust, denn sie liebten sich sehr und wir Kinder waren irgendwie nur so ein Nebenprodukt, jedenfalls für unsere Mutter.

Nun waren wir also alleine und mußten auch dafür sorgen. daß sie abgelenkt und unterhalten wurde, denn mein Bruder hatte inzwischen eine Lehrstelle und ich meine Arbeit, so daß sie den ganzen Tag allein war und jeden Morgen beim Frühstück fragte; „Was soll ich denn heute kochen?“ Sie kochte sehr gut und wir machten unsere Vorschläge. Nachdem wir fünfzehn Gerichte aufgezahlt hatten und uns gemeinsam für eines entschieden, freuten wir uns natürlich auf das Abendessen. Aber dann gab es ein sechzehntes Gericht, womit wir nicht gerechnet hatten. Der Abend war lang und Fernsehen gab es noch nicht. Da mein Bruder Friseur lernte und ein sehr charmanter Junge war, rückten speziell die älteren Damen großzügig Trinkgeld raus, und da wir zuhause teilen gewöhnt waren, lud er uns regelmäßig ins Kino ein.

Da gab es damals die sogenannten Flohkisten – kleine Kinos, schmal wie ein Handtuch und mit leicht ansteigendem Fußboden, damit man auch von den hinteren Plätzen gut sehen konnte. Eine „Flohkiste“ gab es am Mehringdamm. Das erforderte auch einen ganz schönen Hin- und Rückweg, aber man konnte den ganzen Weg temperamentvoll diskutieren. Ich kann mich noch an eine Anzeige erinnern. Für Rentner und Arbeitslose gab es verbilligte Eintrittspreise. „Bei Anruf Mord“ auf allen Plätzen für Fünfzig Pfennig! Darüber muß ich heut noch lachen.

Einmal saßen wir in der vorletzten Reihe, denn Mama mußte regelmäßig erst noch einmal, bevor der Film losging. Und gern aß sie auch die Himbeerbonbons, die man so schön beißen konnte und die in einer Zellofantüte warnen. Die schloß sie natürlich ordnungsgemäß nach jeder Entnahme, und wenn der Bonbon alle war, öffnete sie die Zellofantüte wieder, und wenn wir unfreundliche Bemerkungen machten: „Na was ist denn, die verkaufen doch hier die Bonbons, dann wird man sie ja wohl auch essen können!“ „Lutschen“ sagte mein Bruder. „Na wo ist den daaa der Unterschied!“ fragte sie. „Na eben!“ sagte er. „Ich gehe weiter nach vorne“ sagte ich. Die ersten Reihen und die hintersten waren eigentlich immer gut besetzt, so mitten im Kino gab es öfter ein paar Reihen, die nicht durchgehend besetzt waren. Da rutschte ich nun auf einen Platz und freute mich, dem Geknister entronnen zu sein. Jedoch unmittelbar hinter mir saß ein Mann, der auf Zeitung und Pergamentpapier einen Bückling zerlegte und dazu mit dem Taschenmesse Brot von einem Kanten schnitt. Das raschelte zwar nur etwas, aber dafür roch es intensiv.

Für „Bei Anruf Mord“ hätte ich schon ein paar Kandidaten gehabt, aber schließlich, was wollte man. Wir hatten drei Mark Eintritt bezahlt und etwas erlebt. So nach und nach frequentierten wir fast jede Flohkiste, die sich zu Fuß erreichen ließ, ohne daß man noch Fahrgeld investieren mußte. Und wenn es nicht zu spät wurde, besuchten wir noch eine von den unzähligen kleinen Kneipen, um noch einen Apfelsaft zu trinken oder ein Bier.

Eine weitere Flohkiste gab es am Heinrichplatz, und da das nicht so weit entfernt war, gingen wir Sonnabends in die Spätvorstellung und anschließend gleich in die Nachtvorstellung. Und anschließend nachhause. Da hatten wir dann den Sonntag über Zeit, uns zu streiten, wer was am besten fand. Und: da gab es auch gute Sahnebonbons. Ganz harte. Die blieben nicht immer am Gaumen kleben. Und die waren n i c h t in einer knisternden Zellofantüte. Die waren in einer ganz ordinären Papiertüte. Und die raschelte – aber nicht sehr. Oder sagen wir mal so: Es war gut, die Tüte schnell zuzudrücken, dann raschelte es ganz kurz. Aber wenn man sie ordentlich wieder zumachte und faltete, dann raschelte es, und dann stöhnte man laut auf und brabbelte ein paar Verwünschungen (undeutlich) vor sich hin…. ! Na Hauptsache, der Film war gut. Mit Fernandel offensichtlich….!

Berlin, den 8. August 2014/Lewi

2 Kommentare zu “Flohkisten

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