In unbekannten Gewässern

Über der Stadt lag eine brütende Hitze. Zuhause hatte man mit feuchten Laken die Fenster verhängt, wenn diese zur Sonnenseite lagen. Es war schon eine Weile Hochsommer. Ja, früher gab es tatsächlich so etwas außergewöhnliches. Die Straßen waren leer, die Autos krochen dahin, an manchen Stellen kochte der Asphalt. Na ja, so sagte man halt. Aber er wurde weich, und wenn man nicht aufpaße, blieb der Schuh darin hängen.

Im zweiten Hof eines Fabrikgebäudes in der Oranienstraße Nähe Heinrichplatz gab es eine kleine Firma, die sich mit der Wartung und Reparatur von speziell im graphischen Gewerbe notwendigen Maschinen recht und schlecht über Wasser hielt. Fräulein Vogel schrieb mit der Schreibmaschine ein paar Rechnungen, die heute noch rausgehen mußten, wie ihr Chef, Herr Sperling,morgens angeordnet hatte und nun an seinem Schreibtisch saß und versuchte, mit einem feuchten Tuch sich seine beachtlich nach hinten erweiterte Stirn zu kühlen. Der Mechaniker, Herr Stieglitz, nahm seinen Koffer mit dem Werkzeug, nahm die Auftragzettel, die ihm Fräulein Vogel aushändigte und stopfte sie zunächst ungesehen in seine Kitteltasche. „Na dann, Honky Donky“ verabschiedete er sich und als er dann auf den Hof trat war es, als hätte er einen Schlag vor den Kopf bekommen. Die Hitze traf ihn wie eine Keule. Das Thermometer zeigte 34 Grad, und das auf dem Gewerbehof,

Als er die Straße betrat, kam ihm der Briefträger, Herr Wernicke entgegen und schleppte seine schwere Ledertasche. Bäche von Schweiß strömten über sein Gesicht, und er grüßte mißmutig: „Mann, das ist ja tierisch. Sindwa jetz in Affrika oder wat?“ „Paar Tage bleibtet noch so. Die Kinder ha‘m hitzefrei. Möchtick ooch ha‘m. Wie soll ich denn arbeiten? Meine Foten sind ja janz feucht. Und klebrig sinnse außerdem.“ „Is ehm‘t Sommer!“ sagte Herr Wernicke und betrat den Hinteraufgang, der angenehm kühl war und er setzte sich erst mal auf die unterste Stufe.

Der Chef der Firma Stieglitz-Mechanik drückte die Taste 4 seines Telefons und sagte zu seiner Sekretärin :“Ach Vögelchen, schickense doch die Feli zum Bäcker und lassense se uns mal was zum Frühstück holen. Was leichtes, ne Schnecke oder so. Also keine Windbeutel oder Crémeschnitten.. Oder Splitterbrötchen. Oder sonne Milchbrötchen. Oder so!“ Die Feli ließ sich etwas Geld von Fräulein Vogel geben und verdrehte die Augen Richtung Zimmerdecke, in diesem Falle natürlich Richtung Büro-Decke und brabbelte vor sich hin: „ Wat willa denn nu, weiß er es schon? Sonst rufta mich noch mal zurück!“ Die Feli war der weibliche Bürolehrling und hatte einen besonderen Aufgabenkreis, wozu in erster Linie das Enkaufen gehörte. Sie hieß Felicitas, aber das befand Herr Sperling zu lang, und außerdem: „Das erinnert mich immer so an Caritas, und die woll`n ja meistens Geld. „Deshalb brauchen Sie ja an mir nicht zu sparen“ dachte Feli und schlenderte angemessen langsam zum Bäcker, denn es war heiß!

Gegenüber von Sperling-Mechanik residierte eine kleine Druckerei, die sich im Laufe der Zeit einen guten Namen gemacht hatte, Katz-Werbemittel. Herr Katz gab den Ton an, Herr Wolf kümmerte sich um dies und jenes und Herr Maus hatte die besten Ideen. Die Sekretärin hieß Fräulein Sittich und der Lehrling Wolfgang Hahn. Als freien Mitarbeiter gab es noch einen Grafiker, das war Herr Hauptmann. Sinnigerweise hieß er auch noch Gerhard, aber der Chef nannte ihn mal in einer feuchtfröhlichen Runde Gerdchen, und dabei blieb es. Es wurde aus ihm Herr Gerdchen. „Das macht unser Gerdchen“ war schon fast ein geflügeltes Wort unter den Kollegen.

Nach Feierabend saßen die Unternehmer schon mal einträchtig bei einem Bier zusammen in einer gemütlichen Kneipe in unmittelbarer Nähe, wo sich oft noch andere  Kleinunternehmer zu einem geselligen Beisammensein trafen. Und als es gegen Abend noch immer ziemlich heiß war, beschlossen die beiden Unternehmer, Herr Georg „Orje“ Sperling und Herr Franz-Werner Katz, „Katze“, sich und ihren Angestellten etwas Gutes zu tun und einen Betriebsausflug zu machen. „Bloß nischt mit loofen. Mir is so warm. Vielleicht Dampfer? Det wär doch schön. So auf‘m Wasser, und denn mit Unterhaltung und so. Machen die ja, habe ick mir sagen lassen. Mit Musike und so. Und Kaffee und Kuchen. Und Bier und so. Und Abendbrot gibt‘s ja auch. Würstchen und Salat und so. Und Schnäpperkin. Na, mit allet eben und so!“

Bis zum Wochenende hatte sich die Temperatur etwas abgekühlt, sie lag bei 27 -28 Grad. Das war nicht eben kühl, aber angenehmer als vorher. Das Thermometer war zur Wochenmitte auf 38 Grad geklettert, da ging fast nichts mehr. Die beiden Damen, Beate Vögelchen und Andrea Sittich (gerne von ihrem Chef auch mal Harzer Roller genannt) kümmerten sich nun um das geplante Abenteuer und organisierten die gemeinsame Dampferfahrt am kommenden Samstag ab der Kottbusser Brücke. Früh um 8 Uhr sollte es losgehen. „Sind Sie verrückt Fräulein Vogel, um acht UIhr? Da bin ich überhaupt noch nich da!“ „Dann müssen Sie eben mal eine Ausnahme machen“ flötete das Vögelchen ungerührt und warf den Kopf nach hinten.

Am Sonntagmorgen schien die Sonne. das Wasser reflektierte die Sonnenstrahlen, als ob goldene Punkte über den Kanal gestreut wären. Herr Sperling hatte seine Gattin mitgebracht, die in einem kanariengelben Kleid nicht zu übersehen war, und Herr Katz hatte seine langjährige „Lebensgefährtin“ Mechthild dabei in einem hautengen schwarzen Kleid, das mit riesigen roten Rosen bedruckt war und an jedem Rosenstiel noch zwei grüne Blätter aufwies. Mechthild war ungewöhnlich schlank und man kann sagen, auch ungewöhnlich flach. „Wat is‘n dit für eene?“ fragte die Freundin Annette von Wölfi, der ihr mit dem Ellbogen darauf bißchen in die Seite stieß. „Nich doch!“ zischte er.

„Katze“ hatte auch seine Eltern mitgebracht, daß heißt, er hatte sie eingeladen, „damitse mal bißkin rauskomm, nich? Damitse ooch mal bißkin Abwechslung haben. Mal unter Menschen, nich?“ Der Dampfer hieß „Liebling“ und war nicht besonders groß. Es war so ein richtiger kleiner gemütlicher Ausflugsdampfer. Anscheinend hatten noch mehr kleine Betriebe die gleichen Vorsätze gefaßt und einen Betriebsausflug iniziiert, bald waren an die vierzig Leute versammelt und dann legte der Dampfer ab. Da er es ja nicht eilig hatte, tuckerte er ganz gemütlich vor sich hin und es dauerte eine Ewigkeit, bis er endlich an der Tiergartenschleuse angekommen war. An Bord gab es ein gutes Frühstück, das von einer aufmerksamen Bedienung serviert wurde. Und sogar der Kaffe schmeckte. Das beflüglte schon mal die gute Laune, zumal die Unternehmer nach dem Kaffee, um den Kreislauf anzuregen, sich noch ein Schnäpperkin genehmigten. Es ist schön, die Stadt auf dem Wasserwege zu durchqueren, und die jungen Leute, Wölfi und seine Annette, sich gegenseitig aufmerksam machten. „Du kuckma, wo sindwan jetzt?“ Und Felicitas hatte ihren Bruder mitgebracht, der öfter mal “Mensch.Mensch, Mensch, da freut man sich aber, daß man mal aus ner anderen Perspektive seine Heimatstadt kennenlernt. Mensch, Mensch, Mensch Feli, nächstet mal fahren wir mit der Bahn ooch mal so planlos durch die Jegend. Nich bloß immer unsere langweiligen Straßen um die Grenzallee!“

„Na“ sagte Feli, „so schlimm isset ja nun auch wieder nich. Und wir haben ja dit Columbia-Bad, da is ja auch Wasser drin. Und die Hasenheide. Is ja ooch nich gerade, als wenn man auf`m Mond lebt.“ „Ach weißte Schwesterherz, bei dir hab‘ ich schon öfters jedacht -die lebt ja auf‘n Mond-!“ „Scheißer“ zischte Feli. An der Tiergartenschleuse klappte der Verkehr reibungslos und das Dampferchen setzte relativ schnell seine Fahrt fort. Von den fremden Gästen hatte jemand eine Mundharmonika dabei, die er meisterhaft spielte. Und es dauerte auch nicht lange, daß die Leute zunächst leise mitsummten, dann schon mal mitsangen und leider nach einer gewissen Zeit auch mitgröhlten. Das lag sicher an der bemerkenswerten Anzahl Schnäpperkin, die auch die anderen Passagiere in immer kürzeren Zeitabständen „einpfiffen“ wie Feli’s Bruder Manfred bemerkte und an seiner Cola nuckelte. „Is ja richtig Stimmung Junge“ sagte der alte Herr Katz zum jüngeren Herrn Katz, der sich in die Brust warf und meinte: “Sieh‘ mal Vater, man muß doch seinen Leuten auch mal etwas bieten, nich?“

Mutter Katz hatte bei einem Abstecher zur Toilette, zu der man über eine schmale Stiege nach unten gelangte, ein kurzes Gespräch mit einer älteren Dame begonnen, die ihr versicherte, daß es ein Handwaschbecken gab mit Seife und richtigen Handtüchern. Zwei Stück. Und sogar auch eine ganze Rolle Toilettenpapier. Man ging gemeinsam die Stiege hoch, aber das konnte man nur hintereinander. Dabei war die Konversation bißchen undeutlich geworden, so daß die beiden Damen beschlossen, ganz hinten auf dem Dampfer, der im Bug mit einer Rrundumbank versehen war, Platz zu nehmen, um sich zu unterhalten.

Im Laufe der Zeit stieg die Stimmung stetig an, und der Mann mit der Mundharmonika hatte ein bemerkenswert großes Repertoire, so daß alle nun auch „Eine Seefahrt die ist lustig, eine Seefahrt die ist schön…“ reichlich disharmonisch mitsingen konnten, was man von der Schleuse Spandau bis Tegel hörte. Man war vergnügt. Gegen Mittag wurden ein Paar Bockwürste mit Senf und Weßbrot gereicht und schwarzer Tee oder Pfefferminztee. „Damit wieder alle erst mal auf den Teppich kommen“ sagte die Serviererin, und hinterher gab es noch ein Eis. Danach dösten die meisten vor sich hin, denn obwohl man nichts tat, war es schon eine lange Zeit und man wurde müde. Ziemlich spät legte der Dampfer in Tegel an, und vom langen sitzen auf einem Fleck waren alle steif und unfähig, ein paar Schritte zu gehen und suchten das nächstliegende Lokal auf. Da gab es dann wieder Kaffee und Kuchen. „Haut rein, Kinder. Jeht alles auf meine Rechnung. Den heutijen Tach woll‘n wa nich vergessen. So Jung kommwa nich mehr zusammen!  Prost“ Mit Schwung erhob Herr Sperling  sein Glas und die Hälfte des Inhalts ergoß sich über die Tischdecke. Dann wiederholte er den festlichen Akt mit etwas weniger Aplomb. “Also Prost!“ indem er seine kurze Ansprache mit einem kräftigen Rülpser beendete.

Es blieb für alle noch eine gewisse Zeit spazieren zu gehen, Eis zu essen, die Schwäne zu füttern, auf einer Bank zu sitzen und die Dampfer zu betrachten, die in einer ziemlich kurzen Reihenfolge anlegten und teilweise für heute genug hatten. Der „Liebling“ machte sich auch langsam zur Rückfahrt bereit, und nachdem nun alle müde und erschöpft versuchten, den alten Sitzplatz wieder zu ergattern und mancher auch mal ein bißchen wegdruselte, stach man wieder in See. Während der nächsten Stunde hatte man unten ein sehr ansprechendes Buffet errichtet und mit belegten Hackepeterbrötchen, Tomaten, Kartoffelsalat, Bouletten und Räucherfisch, Brot Butter und Schmalz und sauren Gurken hergerichtet und natürlich gab es Bier. Die Fütterung der Raubtiere hatte begonnen, und wie das so ist wenn es etwas gibt, was nichts kostet, ißt man schon mal Vorrat fürs Wochenende. Man hatte Schlagermusik aufgelegt, und es wurde Wange an Wange getanzt und man vermischte sich mit der hinzugekommenen Clique. Es wurde eine recht unterhaltsame Heimfahrt, und natürlich flossen Bier und Saft, aber auch reichlich Schnäpperkin. Und immerhin befand man sich ja auf See, und es gab sogar hin und wieder Wellengang. Zum Beispiel, wenn so ein zurückkehrender Riesendampfer mit einem Affenzahn den Heimathafen anstrebte.

Jedes Unternehmen strebt irgendwie einem Höhepunkt entgegen, aber im großen ganzen war es ein gemütliches Vor-sich-hin-plätschern, bis, ja bis: Herr Katz senior mit einer Dame vom anderen Verein schon das dritte Mal tanzte, wärend Frau Katz senior vertraumt mit dem Finger die Karos auf der Tischdecke entlang fuhr. Beim vierten Tanz stand sie auf, griff nach ihrer Handtasche und verließ den Tisch Richtung Tanzfläche. Da schlängelte sie sich ein bißchen durch die Paare, bis sie den alten Kater entdeckt hatte, haute ihm mit Schwung die Handtasche um die Ohren, drehte sich wortlos um und setzte sich wieder an ihren alten Platz. Dieser Zwischenfall war nicht unbemerkt geblieben und der ältere Herr Katz und seine Tanzpartnerin setzen sich nach oben in die Frische Luft, Das war aber vielleicht doch nicht so gut, denn nach dem reichlichen Genuß von Bier, Schnäpperkin, Kartoffelsalat, Bouletten, Räucherfisch und Scmalzstullen war frische Luft vielleicht ungesund, wenn man dazu noch bedachte, daß sich Herr Katz beim tanzen auch gedreht hatte. Na jedenfalls, es wurde ihm überfallartig schlecht. Sogar sein Herz raste. Er wäre gerne zur Toilette gegangen, aber das schaffte er nicht mehr. So hing er dann über der Reling und spendete den Fischen. Danach fühlte er sich wirklich erleichtert und beschloß auf anraten von Katz junior, einen schönen Kaffee zu trinken.“Vater, wat machste denn. Nu is Mutter sauer. Nu mußte ihr aber wat erklären!“ Vatern taten die Ohren weh, da wo die Handtasche ihn getroffen hatte.

„Wasch scholl isch denn erglären. Isch wollde blosch bischen tanschen. Sie tanschd ja nich,“ Und dann kullerten ihm tatsächlich ein paar Tränen über das Gesicht. „Vater“ fragte Her Katz junior irritiert, wo sind denn um Himmelswillen deine Zääähne?“ „Umgefäähr in der Schbree, würde isch sag‘n!“

Von diesem wunderbaren Betriebsausflug erzählten die Betroffenen noch Jahre später, zum Beispiel Felicitas ihren kleineren Geschwistern, und Annette und Wölfi ihren Kindern.

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