Laß Dir bloß nicht wieder was vom Pferd erzählen

Soll heißen: Fall nicht rein auf das, was sie dir da weismachen wollen.

Das war nämlich so:

Vor einigen Jahren siedelte eine mir bekannte Familie sich in einer Ödnis in Schleswig-Holstein an, um dem Großstadtrummel zu entfliehen.  Nach einigen Jahren entfloh sie aber der Ödnis und zog nach Hamburg, was ja nicht unbedingt ein ruhiges Leben versprach. Aber immerhin….

Nun geschah es, daß ich ganz zufällig auf einer Heimreise mit Bekannten in einem kleinen Ort nicht allzu weit weg von Kappeln an der Schlei in einem Gasthof übernachtete, und da es zeitig dunkel wurde und auch ziemlich ungemütlich war, denn die Regenböen rauschten unentwegt über die Fensterscheiben, man sich noch zu einem gemütlichen Beisammensein mit den übrigen Gästen und Einheimischen zusammenfand. Plötzlich nannte Jemand den Namen des kleinen Ortes, der mir bekannt vorkam. So nahm ich meine Tasche und setzte mich wie zufällig ganz nahe zu diesem Kreis, und da niemand von mir Notiz nahm setzte ich mich kurzerhand dazu.

„Jau, dat ist ja schon ziemlich lange her. Da hatte der Friedrich Kallweit, ihr wißt doch, dieser Heimatvertriebene und seine Mutter, von dem Bauern Simmeler das kleine Haus gemietet mit dem Schuppen und dem Garten hinter dem Haus. Da hielten Sie Hühner und Ziegen. Und der Frieder verkaufte die Eier und 1A Suppenhühner, auch mal Hähnchen. Die olle Mutter Kallweit machte einen hervorragenden Ziegenkäse und schlachtete die Hühner. Frieder ist ein kluger Mensch und sehr angesehen. Naja, Nu isser ja auch schon alt und die Mutter lebt nicht mehr. Aber das komische war ja, daß der Jan Bickler auch Eier verkaufte. Meist in den umliegenden Orten. Nur wenige Bauern halten noch Hühner. Der Bickeljan hat einen großen Garten mit einer riesigen Wiese und Obstbäumen. Dann fuhr er mit seinem Dreirad durch die Orte und brachte die Eier an den Mann. Aber Hühner konnte man bei ihm nicht kaufen. Mit der Zeit hatte er so viele Hühner, daß sie ihm schon immer mal ausbüxsten. Und durch einen dummen Zufall kam es dann heraus, das Bickeljan keine Blut sehen kann. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und: Bumm. Lag er bewußtlos am Erdboden. So ein großer kräftiger Mensch und so‘ne Zimperliese. Tja..“

„Na jedenfalls“ setzte der nächste Gast die Rede fort,  „es verging ja eine lange Zeit, und Bickeljans Hühner bildeten einen Gesprächsstoff. Dann kam eines Tages die Schwiegermutter von dem neuen Dorfbewohner zu Besuch. Der Bickeljan verkaufte seine Eier, und da er ja ein unterhaltsamer Bursche war, unterhielt er sich immer mit der Schwiegermutter, solange.bis er seinen  Kaffee ausgetrunken hatte. Und diese Schwiegermutter machte täglich lange Spaziergänge. Dann ging sie auf dem Rückweg bei Jan vorbei, trank Kaffee, erzählte ihm was und beendete die Unterhaltung meistens, besser gesagt immer mit den Worten:  Ab morgen  (werde ich, mache ich, könnte ich, würde ich-) und so weiter. Offensichtlich hat aber nichts davon geklappt, denn es blieb bei dem Versprechen: aber ab morgen…..“

Nachdem noch eine weitere Runde Bier auf dem Tisch stand, ergriff ein etwas hagerer Herr nun das Wort und nuckelte ständig an einer kalt gewordenen Tabakpfeife. „PPff..“  Jaja, das war so. Ich erinnere mich dunkel. Auf einmal konnte man bei Jan Hühner bekommen. Es sprach sich schnell herum, daß sie von ausgezeichneter Qualität waren.. Ppff– Ppff..  Das müssen ja unwahrscheinlich glückliche Hühner gewesen sein.!“ Dann zog er ein bißchen die Nase hoch und schüttelte mißbilligend den Kopf. „Es war doch so“ warf der erste Erzähler ein, „daß Jan und die Schwiegermutter eine Beobachtung machten.“ „Eine Beobachtung. So!“ „Ja, So!“ „Und was soll das gewesen sein?“ “Nun, es fiel das seltsame Verhalten der Hühner auf, sie machten komische Bewegungen, stießen seltsame Laute aus, versuchten wie ein Hahn zu krähen und dann stanpften sie mit den Füßen auf, drehten sich im Kreise und fielen tot um.Mit offenen Augen und offenem Schnabel.!“ „Ja und?Was hatte das zu bedeuten?“ „Wissen Sie es nicht?“ „Natürlich nicht, ich bin ja kein Hühnerexperte.“

„Es war doch so“ sagte ein weiterer Gast, daß die Schwiegermütter auf dem Rückweg beim Jan saß am Tisch draußen vor der Küchentür, und da tranken sie dann Kaffee und unterhielten sich, und die Hühner liefen gemütlich herum. Und wenn die Schwiegermutter sich dann auf den Heimweg machte, der doch nur ein paar Grundstücke weiter war, verabschiedete sie sich vom Jan. „Und das sage ich dir, Jan – ab morgen nehme ich eine Regenjacke mit. Oder „Gute Nacht Jan. Ab morgen esse ich nicht mehr so spät Abendbrot- Oder „Ab morgen gehe ich nicht mehr durch den hinteren Waldweg.“   „Ja und?“ „Ja, was denn na und! Verstehen Sie denn nicht? Die Hühner haben sich totgelacht. Jedesmal ab morgen. Da lachen ja die Hühner. Diese Hühner hatten ja nun täglich was zu lachen. Dank der Schwiegermutter. Das hält ja kein Huhn aus. Und deshalb – die Hühner hatten einen glücklichen Tod- Sie haben sich totgelacht“

Die Runde hatte sich zu vorgerückter Stunde wortlos aufgelöst. „Glauben Sie denn so etwas?“ Sprach mich eine ältere Dame an. „Ich weiß nicht.Ab morgen gehe ich früher ins Bett.“ Sie sah mich entsetzt an? „Was ist denn?“ fragte ich ein bißchen grob.“ Es sind doch keine Hühner hier!“

 

SPLITTER (27)

Schwere Gedanken

Nachdem ich die wunderbaren Entdeckungen wieder von der einen Ecke in die andere geräumt hatte, mußte ich mich erst mal in den großen Sessel setzen und ganz wichtige Gedanken wälzen. Zum Beispiel über die Vergänglichkeit des Seins. Und daß nichts und niemand davon verschont wird. „Wem die Stunde schlägt“ sag ich da mal. Sie schlägt auch für einen Baum. Aus heiterem Himmel. Na ja, heiter war der Himmel ja nun nicht gerade. Es schlug ja auch nicht direkt, es sägte. Ratzi fatzi, und weg war die Birke die über vierzig Jahre dicht vor meinem Fenster stand und inzwischen das dreistöckige Haus noch um mindestens fünf Meter überragte. Und da sägte ihr nun mal die Stunde. Beinahe noch im Morgengrauen, aber es war schon 9 Uhr und trotzdem grau.

Ich glaube, was mich am meisten in Erstaunen versetzte war, daß die ganze Aktion kaum zwanzig Minuten dauerte. Also, allerhöchstens eine halbe Stunde. Einer sägte, der Baum fiel um (ein Glück , daß wir vor dem Haus einen großen Rasen haben,.) Einer hackte die Äste ab und schredderte sie und der andere sägte den ganzen Stamm in Stücke, so ca 120 cm lang. Ich habe natürlich die ganze Aktion aus dem Fenster fotografisch festgehalten. Die Seelenpein kam erst später. Auch die Nachbarin über mir, die den Taubenkindern im Frühjahr das Leben rettete, war sehr bewegt und wir haben heute vor dem Hausbriefkasten noch eine Weile über diesen Einschnitt in unser Leben diskutiert. Dann kam noch ein Nachbar vom Parterre, aber der wohnt auf der rechten Seite. Von drinnen, von draußen natürlich links. Aber der sah das selbstverständlich ganz cool. (Mann) nichwa! Holz ist Holz ist Holz. Davon schneiden sie jetzt Bretter, die man bequem vor dem Kopf tragen kann. Die dünneren sind für – na ich verrate es lieber nicht, ich hab‘s doch nur so im Vorbeigehen gehört. War ja vielleicht auch nur eine Vermutung!

Jetzt habe ich hier mein Arbeitszimmer. So lange meine Jüngste noch zuhause war, war das ihr Jungmädchenzimmer und davor ihr Kinderzimmer. In der Zwischenzeit diente es oft als Gästezimmer, und als die anderen beiden noch zuhause lebten, war es stets das Kinderzimmer bis sie flügge wurden, und einer schlief in diesem Zimmer und einer im anderen, wobei sie öfter tauschten und sich öfter zankten. In dem einen waren die Bücher, in dem anderen die Musik. Oft schliefen auch gerne andere Kinder bei uns – und meine wieder bei den anderen Kindern. Da war Lichtenrade noch ein großes Dorf.

Meistens ab Ende April, wenn die Birke genügend Blätter hatte, bis zum späten Herbst, war sie meine Gardine. Oft saßen schon ganz früh kleine Vögel in den Zweigen. Ich konnte sie nicht sehen, aber sie gaben zusammen mit den ersten Sonnenstrahlen ein schönes Konzert. Zweimal nisteten Tauben im Baum, einmal, wie im Gedicht zu lesen, unter dramatischen Umständen. So hatten wir eigentlich ein sehr harmonisches Verhältnis, die Birke und ich. Fünfundvierzig Jahre lang konnte ich die Hand zum Fenster herausstrecken und ihre Blätter berühren.

Ja, da war nun inzwischen der Kaffee in der Tasse wieder kalt geworden, weil ich die ganze Zeit darüber nachdachte, was alles in diesem Zeitraum in meinem Leben passiert war. So viele Geschichten kann ich gar nicht schreiben. Ich denke an die Jüngste, wie sie stundenlang am Boden auf dem Teppich saß und mit den Barbypuppen spielte, und wenn ihre Freundlin dann kam, auch mit ihren Barbypuppen, und Ken natürlich, und ich ihnen dann etwas zu essen machte. Ich denke an das Jahr mit dem Puzzlespiel mit den fünftausend Steinen, wo ich den Couchtisch seitlich auszog, so daß er 120 x 120 cm maß, und das Spiel den Rand überragte. Von Heiligabend bis Mitte bzw. Ende Januar haben wir gepuzzelt, Tag und Nacht. Einer saß bestimmt dran. Und die Oma schimpfte, weil sie es nicht begreifen konnte, daß keiner von uns anzusprechen war. Das Motiv war die Küste von Cornwall, und als das Bild fertig war, hat mein Bastelfreak und geduldiger Sohn, damals noch Schüler, das ganze Bild auf Karton geklebt und dann im Wohnzimmer an die Wand geklebt über dem Eßtisch. Da klebte es bestimmt ein paar Jahre, bis die Renovierung ins Haus stand.

Ich dachte an die Nacht, als ich für eine große Hausverwaltung den Nachlaß feststellen mußte und mir die Arbeit mit nachhause nahm. Ich hatte damals eine kombinierte Musiktruhe und wollte Radio hören. Aber sie blieb stumm. Dann wollte ich wenigstens eine Platte spielen, aber sie blieb stumm. Dann habe ich mich bei meinem Sohn erkundigt, warum die Truhe stumm bleibt und ob etwas mit dem Strom nicht stimmt. Aber er erklärte mir nur, daß er die Lautsprecher ausgebaut hat, weil sie in der Schule ein Experiment machen wollten.

Und dann… und dann… und dann…. Viele Dinge sind passiert. Schöne, weniger schöne und auch sehr traurige……! Es ist ja nicht nur die Birke. Es ist so ein komisches Gefühl. Da hatte ich vorhin noch in die alten Fotoalben gesehen und nun sitze ich hier und höre dem Regen zu, wie er auf das Fensterbrett klopft. Ein bißchen. Es regnet nicht so doll. Und jetzt – ist die Andacht zunächst mal beendet, Mal sehen, ob ich was Schönes zu essen finde. Kaffee hatte ich vorhin schon gekocht.

Jetzt höre ich erst mal meine alten Dubliners. – A Pub With No Beer –

Ach, mein Herz geht auf! Ich lasse sie munter weiter singen.

SPLITTER (26)

Zeit der Erwartung

In früheren Jahren war die Vorweihnachtszeit bei uns immer besonders schön. Da lebten die Kinder noch zuhause, denn sie waren noch nicht ganz erwachsen, da lebte die Oma noch und sorgte energisch dafür, daß alles seinen geordneten Gang nahm, da hatte man im Betrieb mit Chef und Kollegen noch ein paar Abenteuer zu durchstehen, bis dann voller Harmonie die „diesjährige“ Weihnachtsfeier stattfinden konnte – viele Köpfe, viele Sinne und endlich Eintracht und Harmonie. Da war ich schon mal so sechs Wochen voll im Training, denn ich wurde meistens in einige Betriebe zur Weihnachtsfeier eingeladen. Und das war in der Regel etwas nervenaufreibend, aber interessant und erlebnisreich. Trotz allem mußte ich natürlich zuhause auch dafür sorgen, daß das traditionelle Ritual nicht verletzt wurde. Meine Mutter wachte darüber und vergaß auch nicht, mich ständig zu erinnern aus Sorge, es könnte irgendetwas nicht klappen. Aber es klappte. Jedes Jahr klappte es.

Nun werden die Tage vor Weihnachten und auch das Fest immer ruhiger, denn die Enkelkinder sind längst den Kinderschuhen entwachsen, so daß ihre Eltern, also meine Kinder, nun auch alles ruhig und gemütlich haben. Nur Leute in der gleichen Situation können nachfühlen, wie einem die Ruhe und Gemütlichkeit auf den Keks gehen kann, wann man z. B. kein Fernseh-Freak ist. Da ist bei mir zu Weihnachten tote Hose, denn ich werde bei meiner Jüngsten und meinem Schwiegersohn „feiern“. Sie haben mir nämlich heute eröffnet, daß ich Oma werde. Das Enkelkind wird aber erst in ca 14. Tagen zur Familie gehören, weil es noch ganz klein ist und eine französische Dogge werden will. Einen Namen hat es auch schon, aber den verrate ich nicht. Die Eltern in Spe schwärmten während des Mittagessens nicht nur von meiner Kochkunst, sondern beschrieben mir alle guten Eigenschaften dieser Rasse genauestens. Auch dank iPhone konnte ich schon mal schauen, ob mir mein Enkelkind gefällt. Och, ja -süß.

Es war ja wettermäßig ein sehr schönes Jahr, und nun wird es nach und nach etwas kühler, aber noch nicht wirklich kalt. Ich versuche herauszufinden, ob es eine Temperaments- oder eine Altersfrage ist, auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Wir haben an drei Sonntagen (oder Sonnabenden ???) den Lichtenrader Weihnachtsmarkt, der ist so lang wie die Bahnhofstraße. Da kann man pausenlos in einem Abstand von höchstens 15 Metern immerzu etwas anderes essen. Die Straße einmal rauf und einmal runter um nach wenigen Schritten an einem neuen Freßstand Halt zu machen. In manchem Jahr spielte der Lautsprecher noch ohrenbetäubende Weihnachtsmusik, aber das ist inzwischen wohl nicht mehr erlaubt. Und dann läßt man sich so Bauch an Po die Bahnhofstaße einmal rauf und einmal runter schieben. Denn der Markt ist eine Attraktion und die Leute kommen von weit her angefahren. Es wälzt sich eine Masse Mensch von Stand zu Stand. Pelzmützen, Kerzen, Christbaumschmuck, Tischdecken, Handtaschen, Ledergürtel, Holzschnitzereien – ! So, wie ich mich kenne, werde ich da wohl nicht anzutreffen sein. Erst mal sehen, wie das Wetter wird. Aber ich glaube, inzwischen ist Weihnachten längst ein Volksfest geworden. Warum auch nicht, wenn es gefällt. Aber wirklich so mit Weihnachtsgefühl, Überraschungen und Familienbesuchen ist es doch nur mit Kindern am schönsten.

Ich bin die ganze Kindheit über mit meiner Großmutter zur Christnacht in den französische Dom gegangen (bis der Krieg dem ein Ende bereitete), und wenn wir dann wieder herauskamen auf den wunderschönen verschneiten Gendarmenmarkt, dann tanzten die Schneeflocken in dem grünlichen Licht um die Gaslaternen, der Schnee knirschte unter den Schritten, tausend Sterne funkelten am nachtschwarzen Himmel; die Nase fror und die Hände waren tief in den Muff vergraben.

Zuhause glänzte der Weihnachtsbaum, den mein Vater wie immer liebevoll geschmückt hatte, teilweise mit Baumschmuck, den er wie einen Kronschatz hütete, der aus seiner eigenen Kinderzeit stammte. Dann deckten wir schön den Tisch, denn das Essen ist bei uns immer ein Zeremoniell gewesen. Nach dem Essen war „Einbescherung“ wie man das nannte, und mein kleiner Bruder und ich bekamen liebevoll ausgesuchte Geschenke. Dann trank man Kaffee, aß vielleicht noch bißchen Napfkuchen mit Zitronat und Rosinen und erzählte, erzählte, erzählte und die Oma spielte auf der Zither und wir sangen Weihnachtslieder.

Na ja, wie man weiß nahm alles ein ziemlich abruptes Ende, und in den Nachkriegsjahren haben wir redlich versucht, mit den wenigen primitiven Mitteln und Umständen unser Weihnachten zu feiern. Und so ist es auch immer mit allem anderen geblieben. Das Äußere konnte man einem wegnehmen oder zerstören, aber das Innere niemals.

Wir haben zuhause nie über solche Dinge gesprochen und ich habe meinen Kindern auch keine guten Ratschläge erteilt. Aber sie leben und handeln so, wie sie es zuhause gesehen und gelernt haben, ohne es eigentlich selbst zu merken. Und anscheinend profitieren die Enkel auch noch davon. Und deshalb bin ich  eine glückliche Oma, die endlich das erste Mal in ihrem Leben Zeit hat, zu machen was sie will und wann sie es will. Das ist ein unglaubliches Privileg!

Hier geh’n wir einfach rein

Die Frau in der blau-weiß gestreiften Jacke sah mich an und stoppte abrupt ihren flotten Gang. Wir hätten uns fast gegenseitig umgerannt, und ich wollte schon eine entsprechende  Bemerkung machen, aber darin war sie auch schneller. „Mensch, nee wa? Oder doch? Ja wa? Wußt‘ ick doch, daß Sie dit sind. Is ja‘n Ding. Hamwa uns ja ne Ewichkeit nich jesehn, und nu hier. Zack, Bums, beinahe wäre det nich jut jegangen. Is aba. Na also, Jottseidank!“ „Hallo Frau Kunze. Nett, daß wir uns wieder sehen. Es ist ja wirklich schon ziemlich lange her-!“ „Ja wa, det isset. Aber nu seh‘n wa uns ja. Wie geht‘s denn so?“  Wir standen nun mitten auf dem Gehsteig und wurden mal von hinten und mal von vorne angerempelt, weil der Bürgersteig ziemlich schmal war und auch nicht dazu gedacht, hier mit längerem Geplauder den Verkehr aufzuhalten. Ein paar Schritte weiter gab es ein kleines Café, in dessen Schaufenster eine Gipstorte und verschiedene Pappschilder mit Reklame für Gebäck, Tee, Kaffee und Kuchen ausgestellt waren, und auf einer weißen Pappe waren mit Filzschreiber noch ein paar Preise für verschiedene Suppen aufgeführt, die man offensichtlich ebenfalls bestellen konnte.

„Hier jehnwa rin“ sagte Semiramis Kunze und schubste mich ein bißchen aus dem Weg. „Sie ham doch bißken Zeit, oder? Wo wir so lange nischt voneinander jehört und jesehen haben. “Na ja, Zeit hätte ich. Was ich besorgen wollte, bekomme ich nachher auch noch. Sonst morgen. Es ist nicht wichtig.“ Frau Mira Kunze hatte in der Kanzlei, in der ich vor einigen Jahren gearbeitet hatte, die Büros gereinigt und das Treppenhaus, denn das Haus gehörte dem Chef. Und ich wohnte in einem entfernten Bezirk und hatte mir eine Arbeit in meiner Nähe gesucht. Zwangsläufig verliert man sich dann aus den Augen. Frau Semiramis hieß wirklich so und konnte zunächst ihrer Mutter nicht verzeihen, daß sie diesen Namen bekommen hatte, aber inzwischen trug sie ihn mit Grandezza, „denn dit is‘ ja schon mal wat, wa? Se-mi-ra-mis, und nich einfach Inge oder Helga oder Trautchen oder so wat!“

Ich mußte lachen. In der Nähe des Fensters setzten wir uns an einen Caféhaustisch mit Marmorplatte und eisernem Unterbau, und auf den stabilen schwarzen Holzstühlen mit weinrotem Kunstlederpolster konnte man ganz gemütlich sitzen. „Kennen Sie den Laden?“ fragte ich. „Nö, aber ick bin hier schon ofte vorbeijepeest, und jedes Mal dachtick, hier jehste mal rin. Na, nu sind wa hier. Is doch janz hübsch, oda?“ Doch ja, es war sauber und gemütlich und einige Gäste machten einen zufriedenen Eindruck. „Ich glaube, wir sollten uns jetzt etwas bestellen!“ sagte Frau Semiramis und sah in die Speisekarte. In der Plastikmappe lag ein dunkelweißes Blatt, und mit zerflossener Tinte in entsetzlicher Schrift waren ein paar Speisen aufgeführt, die man nicht entziffern konnte. „Na, dann fragen wir eben die Bedienung“ fuhr sie fort, und ich mußte sie wohl etwas irritiert angesehen haben. Sie grinste. „Ich kann auch hochdeutsch. Mein Mann sagt immer, wenn du wo hingehst, nimm Dich zusammen, Du mit deiner elenden Kodderschnauze, Und nun sind wir ja wo hingegangen, oder?“

Ich mußte schon wieder lachen. Eine bestechende Logik.Dann kam eine spindeldürre ellenlange Serviererin mit weißem Schürzchen über dem schwarzen Kleid an denTisch, zückte einen Block und einen Kugelschreiber und sah uns erwartungsvoll an. Ich studierte das Häkelmuster ihres weißen Spitzenkragens und überließ das Gespräch Semiramis. „Wir hätten gerne zwei Kännchen Kaffee und dazu Kuchen. Je ein Stück.Was hätten Sie da..“ „ALso, Kännchenkaffe hamwa nich. Bei uns jibtet entweder ne jroße Tasse oder ne kleene Tasse, also: zwei jroße Tassen Kaffee und Kuchen. Also da hätten wa Streusselkuchen (und nun sah sie angestrengt zur Decke und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen) also Streussekuchen natur, oder Streussel Kirsch, Streussel mit Appel, Streussel Flaume oder könnse ooch mit Aprikose, oder Streussel mit Vanillepudding, jefüllt eben, wa? Oder Obstschnitte, Obstschnitte Erdbeer, oder Obstschnitte Kirsche, oder Käse mit Kirsch, oder…. Ihr Blick hatte sich inzwischen an der Decke festgesogen und Semiramis hatte ihre Gesichtszüge längst nicht mehr im Griff. „Denn könnse aber noch Mohnschnitte, oder Mohn mit Appe……!“ Ich hatte mit einer Handbewegung die vorgetragene Kuchenkarte unterbrochen. „Zweimal Käse-Kirsch ohne Sahne.“ „Is jut“ sagte die Bohnenstange und verschwand in die hinteren Regionen.  „Meine Jüte“ entfuhr es Semirmis. „Det is ja ein Kaliber. Aber irjendwie? Nett war se ja, oder?“

Der Kaffee war wirklich gut, die große Tasse war nicht unsympathisch und der Kuchen schmeckte wirklich hervorragend. Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile und Semiramis blickte noch mal in die  Speisekarte. „Det Ding hier heißt Rosendiele, na dit is lustich. Und hier jibt es ooch Eis. Wollnwa? Also bestellten wir Vanilleies mit Kirschen, und Semiramis lud mich ein. „Weil Se so nett sind. Und ick habe Sie ja ooch belatschert mit dit Kaffetrinkenjehn. Wär doch nett, wenn wa uns hier wieder mal bei Jelegenheit treffen. Ick arbeite an mir – nächstet Mal- fließend akzentfrei. Mein Jünta wirdma prüfen.“ Also, Mittwoch in 14 Tagen, so gegen Fünfzehn Uhr, gleiche Welle, gleiche Stelle.Bis denne—-!

Als ich vor einiger Zeit die sehr belebte Straße entlang ging, gab es dieses kleine Café nicht mehr. Da gab es jetzt Reiseandenken, Postkarten, Stadt-führer und allen möglichen Krimskrams. Ich fand es sehr schade. Hätte gerne wieder mal Käse-Kirsch und so…

SPLITTER (25)

Fundstücke

Die Aufräumungsarbeiten schreiten fort. Ordentlich gestapelt nach Wichtigkeit und Erinnerungswert wandern sie von einem Schrank in den anderen, und auch mal von einem Karton in den nächsten. Man wirft womöglich etwas weg, und dann? Vor lauter Erinnerungen vergesse ich zu dichten – ich vergesse es ja nicht, ich schiebe es nur vor mir her. Und dann diese überraschende Feststellung, wie viel Platz auf einmal auch in einem Kopf ist. Und daß der nicht rebelliert und schreit: verschone mich mit diesem ganzen trivialen Schwachsinn!!! Aber er tut es nicht, und ich bewahre alle meine Schätze auf.Jedenfalls noch eine ganze Weile.

Ich habe sogar schon etwas weggeworfen. Ein Stück silbrige Materie, ähnlich Stoff, und wahrscheinlich mit Tee bekleckert, weil vergilbt. Doch ja, es fiel mir leicht. War ja auch schon wieder fast zwanzig Jahre her, als ich es als besonderes Geschenk von einem unserer Kunden bekam; ein Stück von der Verhüllung vom Reichstag. Einige Geschäftsfreunde hatten in ihren Büros entweder große Fotos vom verhüllten Reichstag oder ein Stück „Stoff“ unter Glas, eingerahmt über dem Chef- Schreibtisch. Also, ich hatte im Nachhinein den Eindruck, ganz Berlin wird eingewickelt (ist eingewickelt worden.)

Ich sehe uns noch mit unseren Besuchern aus Hamburg auf dem großen grünen Rasen stehen, und genau wie alle anderen starrten wir gebannt auf das Gebäude. Jeder tat seine Meinung kund und es war so ein leichtes Gefühl von Volksfest, verbunden mit dem Ernst der Stunde. Und mir fehlt bei solchen Anlässen meistens der nötige Ernst, so daß ich dann lieber den Mund halte. Das erweckt anscheinend die Einschätzung von Andacht. Na ja – man hatte es gesehen. Persönlich, direkt – nicht auf der Leinwand oder so. Komischerweise hatte es aber niemand von uns fotografiert. Ich hatte damals nur eine kleine Box – die ist mir auf der Autofahrt von Harburg nach Jesteburg abhanden gekommen.

Es war also ein ganz besonderes Verpackungsmaterial, wie mir später von einem, der es wissen mußte, anvertraut wurde. Danke für‘s Bescheid sagen. Kein Wunder, das Bild (der Stoff unter dem gerahmten Glas) hängt ja noch immer in der Kellerbar. Sollte man vielleicht auch mal bißchen die Scheibe putzen. Könnte man ja vielleicht noch versilbern – das war ja damals wie ein Fieber. Also das Aluminium bedampfte Polypropylengewebe. Na ja, so von jetzt auf gleich hatten sie das ja auch nicht machen können, da gehörte schon eine Menge Planung dazu. Und ich fand die beiden auch immer sehr sympathisch, obwohl sie ja danach auch noch eine ganze Menge eingewickelt hatten. Ich kann mich an einige Objekte erinnern und wenn ich mal Lust habe, werde ich die alten Jahrgänge der einschlägigen Jounale durchforsten. Christo und Jeanne-Claude. Die waren jahrelang in aller Munde. Und trotzdem – irgendwann gerät alles in Vergessenheit, bis es wieder durch irgendeinen Anlass an die Oberfläche kommt. Und in dieser Angelegenheit – es war wirklich wie ein Fieber. Vorher und nachher.

Mitte der achtziger Jahre, also mindestens zehn Jahre zuvor, wurde in Paris der Pont Neuf eingewickelt, die älteste Brücke der Stadt über die Seine. Sie hatten es eben mit dem Einwickeln. Vielleicht könnten sie jetzt mal paar Politiker einwickeln, dazu brauchen sie nicht so unglaublich edles Material. Muß ja nicht braunes Packpapier sein, es ginge ja auch mit schön bedrucktem Geschenkpapier. Bändchen rum, und rein in‘n Sack. Für den Weihnachtsmann.

SPLITTER (24)

Blick hinüber - nichts zu sehen

Blick hinüber – nichts zu sehen

Nachwehen

Unter großem Jubel und vielen Feierlichkeiten ist nun dieser denkwürdige Tag zuende gegangen und viele Reden wurden gehalten:  auch Mitwirkende von damals haben die Chance gehabt, noch einmal zu Wort zu kommen. Längst sind in Ost und West jüngere Generationen nachgewachsen, und deren Nachwuchs wird wieder mit anderen Gegebenheiten konfrontiert werden. Aber Erinnerungen kann man nicht weitergeben oder übertragen. Und selbst wenn, jeder Mensch macht eigene Erfahrungen, zieht eigene Schlüsse, trifft für sich Entscheidungen und kümmert sich herzlich wenig um das, was vorher war und was er nur aus Erzählungen kennt.

Empfindungen sind subjektiv. So denke ich, daß die überbordende Begeisterung bei den Betroffenen der achtundzwanzig Jahre der Trennung, längst nicht in einen Freudentaumel ausgeartet ist. Man nimmt es mit stiller Freude zur Kenntnis, denkt daran wie alles war und ist glücklich, daß es trotz allem ein gutes Ende gefunden hat. Schon allein der Umstand, daß man z. B. in die S-Bahn steigt und von Mahlow, bzw. von Lichtenrade bis Bernau (vom tiefen Süden bis in den hohen Norden) durchfahren kann, der Zug auf jedem Bahnsteig hält, man ohne Herzklopfen zum Fenster heraussehen kann und keine herrische Stimme fragt: „Ganchma bidde Ihe Babiere sähn?“

Als der Krieg zuende war und der Endkampf um Berlin abgeklungen, war man auch froh, in gewisser Weise auch beruhigt, daß es vorbei war. Und so war es auch nach dem neunten November. An diesem Tage wurden die Grenzübergänge geöffnet und eine Menge Besucher haben es sich nicht nehmen lassen, mal kurz über den Ku-Damm zu fahren und ein paar andere Orte kennen zu lernen, die sie nur aus dem Fernsehen kannten. Ich stand mit vielen Lichtenradern, mit meiner Familie und den Hamburger Gästen am Ende des Kirchhainer Damm‘s und die kleinen stinkenden Ost-Autos kamen in endloser Schlange hereingefahren nach Berlin. Wir alle, die sie da erwartet hatten, klopften jedem zur Begrüßung  freundschaftlich auf den Kotflügel. Aber keine Sorge, es kamen auch eine Menge Stiesel. In den Folgetagen hatten wir reichlich Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln. Auch den Sturm auf die Banken – und es gab noch extra eingerichtete Container, wo unsere Gäste sich den Hunderter DM West abholen konnten. Und anschließend den Sturm auf das Notaufnahmelager Mariendorf. Tränen der Rührung und große Dankbarhkeit sind kaum oder fast gar nicht geflossen, sondern man hörte nun schon immer öfter „Jetzt sind wir dran“.

Auch diese Zeiten gehören längst der Vergangenheit an, und jetzt, nach so vielen Jahren, gibt es eigentlich kaum noch Reibungspunkte. Die Grenze hatte eine Länge von ca, 43 Km, um Ostberlin von Westberlin zu trennen. im Laufe der Zeit entstanden natürlich einige Maueröffnungen sowie bestimmt auch wurde sie an einigen stellen eingerissen, aber einen Mauerfall hat es überhaupt nicht gegeben. Es wurde mindestens nach einem Jahr damit begonnen, die Mauer abzutragen. Man konnte sich wieder innerhalb Berlins bewegen. Die Mauer z. B. Harzer Straße in Neukölln ging unmittelbar am Wohnhaus einer befreundeten Familie vorbei, ein paar Schritte über den Damm. Daran gingen abends die Anwohner vorbei um ihre Hunde auszuführen. Ich glaube, es war auch für KFZ-Verkehr gesperrt. Die Grenze, d.h. auch die Mauer, umschloß Berlin auf ca. 155 Km. Auch die fiel nicht. die verschwand so nach und nach. Wenn ich nach Kladow fuhr, fuhr ich noch viele Jahre „Immer an der Wand entlang….“ Da war nicht nur Mauer, sondern rundherum ein ganzes Stück der sogenannte Todesstreifen. Noch während der Bedrückung, als wir noch in Kreuzberg wohnten, ging mein Filius mit Stift und Zeichenblock bewaffnet die nahe gelegene Grenze ab, um Eindrücke festzuhalten. Einfach so – das geht nicht.

Nun muß ich endlich auch noch zum humoristischen Teil übergehen. Es ist einfach ein Muß, sich, falls irgendeine Möglichkeit besteht, noch einmal den Firm „Eins, Zwei, Drei“ anzusehen, dessen Uraufführung damals glaube ich nicht stattfinden konnte,  weil sie auf den Tag des Mauerbaus fiel. Für die älteren Jahrgänge ist das einfach der (oder das Bonbon). Billy Wilder „One, Two, Three“ aus dem Jahre 1961 mit den unübertroffenen Darstellern.

Wirklich – ein umwerfendes Erlebnis!“

(Mit Klick kann mann die Bilder vergrößern)

Durcheinander 020_2

SPLITTER (23)

…….die Feste feiern wie sie fallen

Anläßlich der heutigen euphoristischen Feierlichkeiten gestatte ich es mir wie stets, die Presseartikel nur oberflächlich zu überfliegen, ebenso, politische Kommentare mit Abstand zu betrachten.

Es waren ja zwei hochpolitische Ereignisse: der Bau der Berliner Mauer und der Fall der Berliner Mauer. Und deshalb finde ich, daß zu beiden Ereignissen hauptsächlich die Berliner zu Worte kommen sollten. Keine provozierenden Fragen – keine umschreibenden Antworten. Und zwar von Bürgern, die durch Miterleben an diesen beiden, zumindest an dem letzteren, noch beteiligt waren und ein gutes Erinnerungsvermögen haben.

Da gäbe es reichlichen Gesprächsstoff – sicherlich auf beiden Seiten. Aber wie alles im Leben, wird nach einer gewissen Zeit das Mäntelchen des Vergessens über viele Angelegenheiten gebreitet. Das ist eigentlich auch keine schlechte Sache, denn sonst fände man niemals zu einem vorbehaltlosen (mit kleinen Vorbehalten?) Neuanfang. Deshalb glaube ich auch, daß der Gedenktag mehr zu stiller Freude und Vertrauen in die Zukunft geeignet ist als zu überbordenden Feierlichkeiten. Es geht nicht um eine WM, sondern um das Zusammenwachsen nicht nur einer Stadt, sondern Deutschlands.

Und wie ich schon öfter in meinem privaten Erinnerungsschatz kramte:

Ich bin aufgewachsen mit einem unglaublichen Sprachschatz an Sprichwörtern und Zitaten. Denn auch die Altvorderen waren nicht in rosigen Zeiten aufgewachsen, sondern mußten mit den Gegebenheiten um‘s Überleben kämpfen. Da war es wohl ganz gut, wenn man ständig daran erinnert wurde, daß man ein Gemeinschaftsschicksal teilte und nicht allein war auf dieser (wahnwitzigen) Welt. Und auch, daß man eben n i c h t machen konnte was man wollte. Wenn das Schicksal nicht will, kannste machen waste willst – es geht nich !!!

Viele Köche verderben den Brei.
Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.
Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.
Eigener Herd ist Goldes wert.
Viele Wenige ergeben ein Viel.
Die Katze läßt das mausen nicht.

Allwissend bin ich nicht, doch viel ist mir bewußt
Werd ich zum Augenblicke sagen: verweile doch, du bist so schön!
Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.
Siehst du den Hut dort auf der Stange?
Wer weiß, was in der Zeiten Hintergrunde schlummert
Was tun? spricht Zeus
Glück hat auf die Dauer nur der Tüchtige

Na ja, so ging es munter weiter. Im Wettstreit sozusagen – alle sattelfest. Vater, Mutter, Oma, Onkel –  Meine Mutter zitierte mit Verve, meine Oma wehmütig, mein Vater übermütig, weil da noch reichlich Berliner Glossen einflossen, und mein Lehrer, um mir eine umfangreiche Bildung zukommen zu lassen. Der zwiebelte mich mit auswendig lernen. Ach doch, es war schön bei uns zuhause. Fernsehen gab es ja zunächst nicht, man war halt Alleinunterhalter. Aber es half stets über viele unerfreuliche Perioden hinweg.

Aura popularis
Pax vobiscum

Und ein paar zeitgenössische:
________________________

Da sollten Sie mal ein Auge drüber werfen
In der Kraft liegt die Ruhe
Dein Ohr in Gottes Hand
Wenn der Hund erst mal in den Brunnen gefallen ist
Immer einen Triumph im Ärmel
Sie haben Feuer geleckt
Wir sind alle aus dem gleichen Pulver geschnitzt

Da können wir nun alle erwartungsvoll in die Zukunft blicken.
(Vielleicht durch die Taucherbrille)

SPLITTER (22)

Der neunte November

Es ist der neunte November 2014, und Deutschland begeht den 25. Jahrestag zum Fall der Berliner Mauer. Das Grenzbefestigungssystem der Deutschen Demokratischen Republik hatte 28 Jahre lang standgehalten. Die Mauer trennte nicht nur die Stadt in zwei Teile, den Ostteil und den Westteil, sondern sie umschloß hermetisch ganz Westberlin und unterbrach den Zugang zu dem im Ortsteil Potsdam gelegenen Berliner Umland. Nach dem Beschluß der Konferenz von Jalta wurde Deutschland unter den Siegermächten in vier Teile, Besatzungszonen, geteilt und analog dazu Berlin in vier Sektoren.

Die Politik geht ihre eigenen Wege, dagegen können die Bürger wenig tun. Aber es nimmt nicht wunder, daß sich auch die Menschen analog zu den ihnen gebotenen Möglichkeiten entwickelten. Es ist keinesfalls nach dem Fall der Mauer sofort ein herzliches Miteinander entstanden, denn dazu waren allein die Lebensbedingungen viel zu unterschiedlich. So sind die ersten Jahre nach dem Mauerfall, zumindest in Berlin, nicht gerade in eitel Sonnenschein aufgegangen. Gut Ding will Weile haben sagt ein Sprichwort, und Weile hatten wir ja nun genug. Und ich denke, die Menschen werden irgendwann diese gräßliche Zeit vergessen und wieder ohne Vorbehalte zueinander finden.

Da John F. Kennedy erst 1961 sein Präsidentenamt übernahm, hatte er sich zunächst zu dem Mauerbau in Berlin nicht geäußert. Erst, als er anläßlich des fünfzehnten Jahrestages der Berliner Luftbrücke unsere Stadt besuchte, hielt er seine unvergessene Rede vor dem Schöneberger Rathaus, um auch ein für alle mal festzuhalten, daß er (bzw. Amerika) nicht zulassen wird, daß Westberlin dem Kommunismus anheimfällt.

„Two thousand years ago the proudest boast was „Civis Romanum sum“, Today, in the world of freedom, the proudes boast is: „Ich bin ein Berliner.“

Da muß man einfach mal ein bißchen aufrunden: „Wir waren achtundzwanzig Jahre unter verschiedenen Lebensbedingungen getrennt, und fünfundzwanzig Jahre konnten wir nutzen, um nachzudenken und zu handeln. Na das wird doch mit der Zeit. Also ich finde, bis auf den Dialekt klappt alles schon ganz gut, oder?

SPLITTER (21)

9. November

Im Rundfunk brachten sie heute Abend schon einige Beiträge zum Tag des Mauerfalls, Erinnerungen, Befragungen. Wolf Biermann hatte schon für Aufregung gesorgt, der Drachentöter von Lammerts Gnaden, wie bemerkt wurde. Nun war ja wohl der 9.November der historische Tag. Gorbatschow ist in Berlin, alles ist Euphorie, alles wird über den grünen Klee gelobt – alles ist wunderbar. Anlaß zur Freude.

Besonderen Anlaß zur Freude finde ich haben wir auch alle zusammen, daß dieser unwürdige Streik beendet wurde und daß es noch Vereinbarungen zur Zufriedenheit aller zu treffen gilt. Es ist allerdings schon eine Weile her, aber ich war mindestens sechs bis sieben mal in Italien. Entweder streikte die Post, die Bahn, die Presse – ich weiß nicht, was man noch alles bestreiken konnte, aber ein Italienaufenthalt ohne Streik war wie eine Suppe ohne Salz. Das Wetter streikte nie. Wir hatten nur ein einziges Mal drei wirklich ganz schreckliche Tage mit Unwettern, wo man zu guter Letzt tatsächlich fast gemütskrank werden konnte.

Ich habe nun diese 25 Jahre mal Revue passieren lassen, was mir in dieser Zeit so alles widerfahren ist – es war nichts Gutes. 6 Operationen, fast ein Kind verloren, und im Gegensatz zu den aufregenden Jahren mit der aufregenden Arbeitswelt – also das genaue Gegenteil. Deshalb nehme ich auch an der derzeit überschäumenden Freude nur angemessen teil. Es traf uns ja alle wie ein Keulenschlag.

Etwas anderes ist mir aber wieder plötzlich bewußt geworden. Wie ich es schon einmal sagte, wenn man sich an etwas zurückliegendes erinnern will, muß man sich zuerst an die zurückliegende Zeit erinnern, und dann fällt einem auch alles wieder ein. In diesem Fall war es genau anders herum. Ich bin mal wieder die Presse durchgegangen, das tue ich ab und zu, damit ich nicht ganz ahnungslos bin. Und auf einmal begegnet mir Henry Maske. Nie im Leben hätte ich mich an den erinnert, obwohl er ja viele Jahre ständig präsent war. Nun war er erst mal wieder da und mit ihm die Zeit, in welcher er uns beinahe pausenlos beschäftigte. Er war ja in den Perioden seiner Höchstform schon eine Legende und besonders auch als Mensch war die Presse und jedermann des Lobes voll.

Und so sind sie mir dann alle wieder eingefallen. Na ja, nicht alle, aber die meisten.  Zum Beispiel: „Jetzt kommt dein Süßer, dein kleines Engelein….“ Helga Hahnemann. Oder: „Lebt denn der alte Holzmichel noch“…..“ Die Randfichten. Oder: „Das Schachspiel“…. mit Rolf Herricht, und Herbert Köfer, und all die anderen, die wir eigentlich auch schon vor der Wiedervereinigung besonders gerne hatten. Fernsehen hatte ja auch etwas Gutes, und das Sandmännchen, Herrn Fuchs und Frau Elster hatte ich auch angesehen, wenn ich alleine war. Ebenso die bezaubernden tschechischen Märchenfilme.

Wie bei allen Dingen im Leben muß man ihnen immer eine gewisse Zeit lassen. Man sollte sich gerne oder nicht so gerne, je nach dem, erinnern. Und damit sollte man es gut sein lassen und die Gegenwart akzeptieren. Das bezieht sich auf das Zusammenleben, nicht auf die Politik – die kann man wahrscheinlich nur kopfschüttelnd ertragen.

Ein ganz besonderes Fluidum

Ziemlich ab Anbeginn meines beruflichen Aufstiegs, so etwa zehn bis elf Jahre nach Kriegsende, wohnten wir und arbeitete ich ja noch in Kreuzberg. Da konnte ich den Arbeitsplatz natürlich zu Fuß erreichen, denn in diesen Jahren lief man noch viel, selbst wenn es bequeme Fahrverbindungen gab. Man sparte das Fahrgeld. Auch mußte man zwangsläufig oft häufiger die Arbeitsstelle wechseln, weil den Firmen nicht immer der wirtschaftliche Aufstieg vergönnt war. Der Bezirk blieb, die Stelle wechselte, bis man, und die Firma auch, Glück hatte und auf einen Fortbestand hoffen konnte.

Da gab es nun im Hinterhof des stark bombengeschädigten Nachbarhauses eine Autoschlosserei und zwei bis drei Parkplätze für zahlungswillige Nachbarn. Mein damaliger Chef war zahlungswillig, und so half ich ihm, wenn er auf Kundentour fuhr, seine Aktentasche runterzutragen; die Pakete trug er in der Armbeuge und bevor ich ihm den Kofferraum öffnete, fiel meist die Hälfte davon zunächst mal auf den Boden.

Nachdem er dann vor sich brubbelnd ins Auto stieg, kurbelte er das Fenster herunter und legte mit ufgestütztem Arm zwei Finger an die Stirn. Den Zeigefinger und den Mittelfinger. So wie er außer Sicht war, legte der „Autofritze“ auch zwei Finger an die Stirn und brubbelte ebenfalls: „Fahrn‘se vorsichtich!“ „Na Kleene, wat is los?“ fragte er anschließend mich, falls ich noch da stand. Neben der geöffneten Werkstatt-Tür stand in den Sommermonaten oder auch bei günstigen Temperaturen ein runder Gartentisch an der Seite, ein Klapphocker, auf dem ein bräunliches verwaschenes Kissen lag, aber anscheinend nie jemand dazu gekommen ist, darauf zu sitzen, weil die Katze Minka es in Beschlag genommen hatte. Außerdem eine zweisitzige Bank uf einem eisernen Gestell mit bräunlich lackierten Holzleisten und zwei Korbstühle, vom Regen total verwaschen und ächzend, wenn man sich darauf setzen wollte. Fleckige graue Sitzkissen jedoch konnten einen nicht unbedingt zum Platz nehmen verleiten.

Ich hatte schon früher mal darauf hingewiesen, daß es zu der damaligen Zeit, zumindest in Berlin, eine Unmenge „Fritzen“ gab. Z.B. den Zeitungsfritzen, den Zigarrenfritzen, den Gemüsefritzen, den lumenfritzen, aber den Wurstmaxe, den Heringsbändiger, wer auch immer bekam einen entsprechenden Titel. Meist kam im Laufe des Vormittags die Meisterin vorbei, um ihren Gatten zu verpflegen und auch die beiden Angestellten. Mücke, den Lehrling, und „Großer“, den Gesellen. So groß war er ja nun auch wieder nicht, Aber der Meister war klein und gedrungen und Mücke noch bißchen entwicklungsbedürftig, denn er hatte mal gerade seinen Volksschulabschluß mit der achten Klasse beendet. Damals war eben alles noch anders. Einige meiner langjährigen Bekannten hatte mit 14 Jahren die achte Klasse mit ausgezeichnetem Zeugnis verlassen, gingen anschließend in die Lehre und haben mit achtzehn Ihre Gesellenprüfung gemacht. Man konnte wohl mit dreiundzwanzig Meister werden, bestimmt war man es aber mit fünfundzwanzig. Und man war stolz, man war ein Handwerker.

„Komma ruhich n‘ Viertelstündchen rüber, Kleene“ sagte manchmal die Meisterin, wenn ich noch auf dem Hof stand. Dann legte sie eine Wachstuchdecke undefinierbarer Farbe auf den runden Tisch, stellte die braune Steingutkaffeekanne auf eine Kachel und fügte ein Weidenkörbchen mit belegten Schrippen hinzu,
und aus braunen Steinguttassen tranken wir dann Kaffee mit Würfelzucker und Büchsenmilch..!

Ich habe immer den Geruch dieser Werkstatt geliebt, auch den Geruch des Garagenhofes bei meinem Onkel, die Gerüche in den Druckereien, in denen ich später viel zu tun hatte und eine befreundete Schlosserei, eine Tischlerei – Und als ich als kleines Mädchen mit meinem Papa den Onkel auf dem Anhalter Bahnhof besuchte, als er draußen mit dem großen Schraubenschlüssel die Lokomotive wartete und ihr Räder mich erheblich überragt hatten. Es roch nicht nur nach Öl, es roch auch nach Arbeit. Und die Leute waren stolz auf das, was sie sichtbar geschafft hatten. Und sie hatten dreckige Arbeitsklamotten an. Bei der Arbeit passiert.

Ich möchte gar keine Vergleiche ziehen, ich bin nur immer wieder von neuem glücklich und zufrieden und dankbar für all das, was es mir vergönnt war zu erleben. Den Briefträger, der zweimal am Tag kam mit der schweren Ledertasche umgeschnallt, und die Post nach oben trug, und am Monatsende kam, um meiner Mutter die Rente auszuzahlen. Und immer ein paar freundliche Worte zu wechseln. Den Kohlenmann (kein Fritze), der die Briketts zu uns in die zweite Etage brachte und dazu einen Kasten Holz. Das stapelten wir auf dem Korridor, weil wir keinen Keller hatten. Und einen kleinenTeil davon in der Küche, denn der große Herd (die Kochmaschine) wurde mit Brikett gefüttert, um eine schöne warme Küche zu haben. Oft fügte man noch eine kleine Schaufel Koks hinzu, bis die Herdringe aus Eisen glühten. Auch diese wohlige Wärme und der leichte Kohlegeruch. vermischt mit Kaffeegeruch und aufgewärmten Essen – alles war irgendwie vertraut und vermittelte ein Gefühl von Geborgenheit.

Früher war eben alles anders. Vielleicht nicht besser (oder doch)? Aber anders auf jeden Fall. Da hatten wir es jedenfalls besser als die, die vor uns da waren, denn die hatten längst nicht diesen Komfort.

Ich liebe ihn noch immer, den Geruch von Arbeit.