SPLITTER (41)

Karfreitage

Mein Geburtstag ist ja der 27. März, und während einiger Jahre fiel dieser auf diesen besonderen Tag. An einige dieser Tage habe ich noch mehr oder wenige dunkle Erinnerungen. Am 27. März 1959 zum Beispiel wohnten wir noch in Kreuzberg am Lausitzer Platz, auf dem eine wirklich sehr eindrucksvolle Kirche steht, und hatten sozusagen die Kirchenglocken vor den Ohren. Sie wurden jeden Sonntag ab 7 Uhr in einigen Zeitabständen bis 10 Uhr geläutet, so daß an Schlaf kein Gedanke war. Die Glocken hatten einen schönen und sehr reinen Klang, aber mit der Lautstärke hätte man im wahrsten Sinne des Wortes Tote aufwecken können.

Mein Bruder lebte noch bei uns zuhause, und ob man nun wollte oder nicht, es war ein ganzer Tag verordneter Besinnung. Der Rundfunk sendete fortlaufend klassische Trauermusik, übertragenen Gottesdienst und salbungsvolle Vortrage. Es hätte sich wohl auch gehört, zur Andacht zu gehen, aber jede Art von Übertreibung war uns stets verhaßt. Wir konnten uns nun aussuchen, was Mama kochte. Senfeier, Eier mit Spinat, Fisch in Dillsoße, sauren Hering oder sonstwas mit Eiern oder Fisch. Wegen Karfreitag. An diesem Tage war kein Restaurant (oder fast keines; nur hartnäckige Widerspruchsgeister folgten den Riten nicht) geöffnet, ganz selten eine Kneipe. Zum Nachmittagskaffee bekamen wir Besuch, und das Gespräch bei Tisch verlief in angemessener Lautstärke. Man erzählte von früher, wie alles mal so war usw. Die älteren Semester, wie gewöhnlich, hatten eine Menge zu erzählen und mit dem fortschreitenden Abend wurde die Unterhaltung temperamentvoller.

Am Karfreitag 1974 lag ich todkrank im Sanatorium. Seit 1966 wohnten wir bereits in Lichtenrade. Später hatte ich mich dann wieder erholt. Hier dröhnten am Karfreitag auch stundenlang die Kirchenglocken, aber man war weiter davon entfernt und es hatte fast einen romantischen Effekt. Im Laufe der Zeit änderten sich die Sitten und man ging auch in der Öffentlichkeit anders mit diesen Überlieferungen um. Zumindest sind wir dann öfter mal „rausgefahren“, und man konnte wieder Restaurants besuchen und leise, stimmungsvolle Musik hören. Na ich bin froh, daß manche Gebräuche längst gekippt sind. Dazu gehörte, daß wir gerne ins Kino gingen und es wieder üblich war, auch Karfreitag Nachtvorstellungen zu geben. Und daran erinnere ich mich nun besonders gerne, denn es waren Filme, die wir der Umstände halber eben sehen mußten, weil es keine anderen gab an diesem Tag. Und das war eine bleibende Erinnerung und eine Bereicherung sowieso.

Diese Nachtvorstellungsrituale, besonders auch an Karfreitagen falls möglich, haben wir jahrelang beibehalten, bis Beruf und häusliche Verhältnisse immer weniger Zeit für ein unterhaltsames Leben ließen. Da habe ich dann eben mehr gelesen als gesehen sozusagen. Inzwischen war mein Bruder längst fortgezogen weil er geheiratet hatte, meine Mutter war gestorben und mein Bekanntenkreis geschrumpft, weil ich keine Zeit hatte mit Beruf und zwei Kindern und die gesellschaftlichen Unternehmungen mehr oder weniger mit dem Beruf und den Kollegen verknüpft waren. Auch nicht schlecht, aber stressig.

Das Lied von Bernadette, Symphonie Pastorale, Lohn der Angst, Der Pfandleiher, Der Leopard, Blow up, Der Hauptmann von Köpenick, usw, usw, usw.

Na ja. Wie wir immer sagen, meine Nachbarin und ich: „Früher war alles anders!“Ob man nun will oder nicht, man lebt immer in der Gegenwart. Und je länger Ereignisse und Begebenheiten zurückliegen, je blasser werden die Erinnerungen. Aber noch sind sie vorhanden, wenn auch ein bißchen in den Hintergrund gedrängt.

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