SPLITTER (37)

Essen gehen

Als ich noch Kind war und auch während des Krieges – da ging man nicht Essen. Jedenfalls nicht bei uns zuhause. Da kochte man und lud sich gegenseitig zum Essen ein. Und man überbot sich natürlich an den wunderbarsten Rezepten. Das konnten auch ganz einfache Dinge sein. Und dann erfolgten selbstverständlich die Tischgespräche. Besser gesagt: die Nachtisch-Gespräche. Da wurde es für mich natürlich Zeit, sich unter den großen Tisch zu verziehen und aufmerksam zuzuhören, was es da so zu erzählen gab. Waren Papas Freunde aus den gemeinsamen Kindertagen in Schöneberg zu Gast, so überboten sich zunächst die Betreffenden mit Jugenderinnerungen und anschließend mit den Rezepten der entsprechenden bürgerlichen Küche, und da man sich da auch schon ziemlich einrichten mußte, gab es eben einfaches Essen, was für uns aber irgendwie das Nonplusultra war. Klöße, Kartoffelpuffer, Quetschkartoffeln mit Gurkensalat, Blutwurst mit Sauerkraut, Bratkartoffeln mit Hering…!

Aber der Onkel aus Bromberg schickte hin und wieder einen Hasen, dann kam ein langes Paket an. Es gab Hirsch, Reh, Hase, Wildschwein – noch war ja kein Krieg und man hatte keine Lebensmittelmarken nötig. Dann folgten die Spezialitäten aus Polen, die meine Oma und meine Mama 1a zubereiteten und denen wir bis heute noch frönen, die deftige Küche unserer Verwandtschaft aus Westfalen, die bodenständige aus Berlin, Mecklenburg und Havelland, und die der angeheirateten Familie aus Schlesien und einer innigen Freundschaft mit einem Geschwisterpaar aus Ostpreußen. Gewürzt wurden die Stunden zwischen Mittagessen und der Kaffeetafel mit den erläuterten anregendsten Rezepten, so daß einem pausenlos das Wasser im Munde zusammenlief. Zum Kaffee gab es immer reichlich den allerbesten Kuchen, den mein Papa gebacken hatte, und danach plauderte man bis zum Abendessen. Wenn sich die Gäste dann auf den Heimweg machten dank der Straßenbahnen, die noch lange in verschiedenen Richtungen unterwegs waren, war es dann schon ziemlich spät geworden. Jede Familie bekam noch ein Päckchen mit Kuchen, Fleisch oder ein Glas mit Rotkohl oder Sauerkraut, damit sie in den kommenden Tagen keine Entzugserscheinungen hatten.

Während der ersten Kriegsjahre lebte man noch einigermaßen gut, schon dank des Ideenreichtums, was die Ernährung betraf. Mein Papa hatte einen sehr schönen kleinen Plattenwagen gebraut, der mit gummibereiften Rädern (vom alten Puppenwagen) , einer beweglichen Vorderachse und einer handlichen Deichsel ausgestattet war. So zogen wir im Morgengrauen beide los auf einem zwar langen, aber zu bewältigen Fußmarsch zur Großmarkthalle am Alexanderplatz, und wenn dort beim Gemüse laden Blätter herabfielen, sammelten wir sie ein. Manchmal drückte so ein schwer keuchender Mann mit der großen Schürze und der Last auf dem Rücken mir schon mal zwei Kohlrabi in die Hand. „Na, nimma, Kleene!“ Ein anderer hatte auch schon mal einen kleinen Wirsingkohl im Vorbeigehen fallen lassen oder einem ein paar kleine Kartoffeln in die Hand gedrückt. Aber auch damit war es gegen Kriegsende vorbei. Da war nicht mehr viel umzuladen und die Gemüsegeschäfte bekamen kaum noch Ware. Da mußte man zwei bis drei Stunden anstehen und wußte nicht, ob man noch etwas ab bekommt, wenn man ganz hinten anstand. Da haben wir uns oft abgelöst, meine Mama und ich, und dann war der Vormittag schon erst mal vorbei. Mitunter auch der Nachmittag, wenn der Laden erst um 14 Uhr öffnete, weil vorher keine Ware vorhanden war.

Ein Name aber ist mir von frühester Kindheit mit dem Begriff „Essen gehen“ allerdings geläufig, weil er auch immer in unterschiedlichen Gesprächen Erwähnung fand. Noch bis eine ganze Weile in den Nachkriegsjahren war „Aschinger“ ein Begriff in Berlin. Ich erwähnte ja schon mehrmals, daß wir tatsächlich fast im Mittelpunkt von Berlin lebten, daß ich die Innenstadt schon als Kind zu Fuß wie meine Westentasche kannte, Straßenbahnen, U-Bahn, Umsteigen Alexanderplatz mit den vielen Bahnsteigen – all das und noch viel anderes hat mich begleitet und geprägt. Ich fuhr allein nach Reinickendorf, nach Lichterfelde, nach Schöneberg, nach Wilmersdorf, zum Kottbusser Tor zur Oma -, selbstständig eben.

Na gut.Mein Papa war kein Biertrinker, er wäre also nicht in Aschinger‘s Bierquelle gegangen, aber man kannte eben seine Umgebung. Am Märkischen Museum waren die Berliner Bären, die wir öfter mal besuchten, und die ich auch alleine besuchte mit dem kleinen Bruder an der Hand, wenn es mal Zeiten gab, wo man annehmen konnte, daß kein Bombenangriff am Tage zu erwarten war. Da gab es in der Neuen Rossstraße eine „Bierquelle“ Später hatte man das Gefühl, daß alle paar Meter in der Innenstadt Bierquellen aus dem Boden schossen. Aber es gab ja auch reichlich Berliner Brauereien, und auch im Umland. Alexanderplatz, Friedrichstraße, Leipziger Straße……Überall quoll das Bier.

Berühmt war die Erbsensuppe bei Aschinger und man konnte dazu so viele Schrippen essen wie man wollte. Davon haben sich (gerüchteweise, wofür ich es immer hielt) Legionen von Studenten ernährt. In der Nachkriegszeit, als unser Vater schon tot war, sind wir ein paar Mal bei Aschinger eingekehrt. Das war wohl das in der Joachimsthaler Straße, denn wir wohnten ja inzwischen in West-Berlin. Ich glaube, da gab es noch Lebensmittelmarken. Ich kann mich an einen Tisch mitten im Lokal erinnern – jedoch zu dieser Zeit gab es keine Schrippen mehr umsonst. Aber wir hatten Würstchen und Erbsensuppe, Bierwurst glaube ich. Das Messer unserer Mutter war stumpf, und als sie die Wurst zerschnitt, in der Mitte, flog die eine Hälfte über den Tisch auf einen anderen und einem Mann in die Suppe. Die war wohl noch heiß und spritzte ihm ins Gesicht. Zur Strafe wollte er die Wurst aufessen. Aber mein Bruder ging einfach an den Nachbartisch, nickte dem Mann freundlich zu und griff sich den Wurstzipfel, um ihn der Mama wieder zurückzubringen. Das war unser Ausflug in das Proletarier-Milieu, wie sich unsere Mama auszudrücken pflegte.

Aschinger ist inzwischen schon ziemlich lange aus Berlin entschwunden. Aber ich kann mich immer noch an die Reklamen erinnern. Blau und Spiegel – Rauten. Zu DDR Zeiten gab es wohl am Alex auch noch ein Aschinger, da waren wir einmal, mein Bruder und ich, als man noch rüber fahren konnte. Da gingen wir auch öfter mal ins Kino. So ein kleines in der Schönhauser Allee. Kann mich an einen gruseligen Krimi erinnern.

Aber ich will ja keine Gaststätten-Historie schreiben. Was dem Einem sein Aschinger ist eben des Anderen sein Eis-Hennig. Aber in den Jahren nach dem Krieg, als ich schon Kinder hatte, waren es die Jahre von Hühner-Hugo und Hardtke. demnächst….

SPLITTER (36)

Faulheit laß nach

In letzter Zeit habe ich wenig geschrieben; eigentlich so gut wie überhaupt nicht. Leider purzeln die Gedanken ja nicht von alleine auf‘s Papier. Genaugenommen habe ich überhaupt nichts vollbracht – was du heut‘ nicht mußt besorgen, das verschieb‘ auf übermorgen. Also, es gab ja eine ganze Reihe übermorgen – nun muß aber mal Schluß sein. Ich war ja auch immer in Wartehaltung. Kommt nun der Winter oder kommt er denn nun nicht? Also, er kam nicht, nur drei Mal kleckerweise für eine Nacht. Anderntags war er wieder weg.

Nun habe ich mich aber reingekniet – ich habe meine Bücherregale aufgeräumt – war ja mal wieder alles durcheinander. Jetzt herrscht aber Ordnung. Es hat ja auch ein paar Tage gedauert, denn ich habe eine Menge aussortiert und auch einige schon mal in die erste Reihe gestellt. Ich habe ja wirklich alle gelesen und habe dafür zweiundsechszig Jahre gebraucht. Nun werde ich wieder von vorne anfangen. Muß eben bißchen schneller lesen. (Oder mal paar Seiten überspringen).

Also zunächst habe ich mal mit alten Lieblingsbüchern begonnen. Ein paar habe ich schon griffbereit auf dem Couchtisch arrangiert. Dann zünde ich mir abends die Kerze an, mache die Deckenlampe aus und die Stehlampe an (dann knallte die Birne durch und ich mußte erst mal wieder eine neue finden). Ausnahmsweise fand ich sie an gewohnter Stelle.

Nicolas Remin: „Venezianische Verlobung.“ Ein sehr spannender historischer Kriminalroman um das Geschehen um Erzherzog Maximilian, der Kaiser von Mexiko
werden sollte und um den Mord an seiner Geliebten. Mit seinem Bruder, dem Kaiser von Österreich, steht er auf Kriegsfuß. Viel Politik, viel Geschichte, viel Intrigen, daneben die noch ausstehende Heirat zwischen Commissario Tron, der eigentlich auch ein Fürst ist, aber verarmt, und seiner Verlobten, der Principessa Montalcino. Ja, da bin ich dran geblieben, denn es ist zügig und sehr spannend und detailgetreu geschrieben. Hat mich w i e d e r aufgeregt und angeregt.

Gabriel García Márquez: „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“.Eine große Liebesgeschichte. Es geht um ein altes Ehepaar, dessen Ehe schon fünfzig Jahre währt und trotzdem noch irgendwie funktioniert, trotz eines langjährigen Verehrers der Frau in ungebrochener Zuneigung, Florentino Ariza. García Márquez hat einige sehr lesenswerte Romane geschrieben, darunter „Hundert Jahre Einsamkeit“. „Der Herbst des Patriarchen“. Er bekam 1982 den Nobelpreis für Literatur. Das ist auch ein Buch, das ich schon liebe, wenn ich es nur in die Hand nehme.

Peter Hoeg: „Fräulein Smillas Gespühr für Schnee“ Das Buch hatte ich zuerst gelesen, dann habe ich den Film gesehen. Der hielt sich weitgehend an das Buch. Der Film war beeindruckend, und ebenso die Handlung. Auch hier wieder emotionale Spannung. In Dänemark haben es Grönländer nicht leicht. Habe ich auch gerade bei Halldór Laxness gelesen in der Islandglocke. Smilla Jaspersen ist die Tochter einer grönländischen Jägerin. Es ist ein unglaublich spannender Roman, den man einfach gelesen haben sollte und der streckenweise im ewigen Eis spielt. Der Roman wurde von August Bille verfilmt.

Zur Zeit lese ich von Christoph Ransmayr „Die letzte Welt“ Durch den Imperator Augustus für alle Zeit verbannt nach Tomi am schwarzen Meer wird Ovid, der umstrittene römische Dichter. Auch durch Augustus Nachfolger wurde die Verbannung nie mehr aufgehoben. Cotta, ein Römer, macht sich auf nach Tomi ans Schwarze Meer, um das verschollene dichterische Werk „Metamorphosen“ aufzufinden, das von Ovid aber verbrannt und vernichtet wurde, Spurensuche… Metamorphosen, die letzte Welt, Parallelen – sehr interessant, bißchen anstrengend, aber gleichsam mal wieder eine gedankliche Rückkehr in meine heißgeliebte „Römerzeit!“

George Orwell „Coming Up For Air“ ( Deutscher Titel: „Das verschüttete Leben“) Hatte ich vor einiger Zeit begonnen, bin dann aber woanders gelandet. Also, wenn ich mit Ovid abgerechnet habe, äh, wenn ich Ransmayr ausgelesen habe, werde ich mich um George kümmern. D.h., mal sehen, was er hier so von sich gibt.

Ich sollte ja auch mal wieder etwas dichten. Kein Imperator in Sicht, der mit Verbannung droht o.Ä.

SPLITTER (35)

Von jetzt auf gleich

Es war an einem Samstag-Vormittag, so gegen 11 Uhr. Wir turnten noch in den Betten herum und hatten uns aus den zusammengerollten Kissen wieder unsere „Wohnung“ gebaut, wo wir mit unseren Teddybären und der Käthe-Kruse-Puppe Familienleben spielten. Mein Bruder hatte den blauen Schlafanzug an und ich ein Nachthemd mit kleinen Blümchen, was schon etwas verwaschen war und ein paar Blümchen herausgefallen waren. Unsere Mama hatte in der Küche zu tun und unser Papa geleitete eine Kommission durch das in unserem rückwärtigen Garten zur Zeit leerstehende Bürogebäude. Es waren Leute in Zivil, die im Luftfahrtministerium ausgebombt waren und eine neue Bleibe suchten.

Als die Sirene ging, hatten wir kaum reagiert, denn ich beschrieb bereits einmal, daß das rückwärtige Amtsgebäude zwei untereinander liegende Keller, die mit jeweils einer Stahlbetondecke versehen waren, hatte und der Zugang nur kurz und überdacht war. So richtig Angst kannten wir eigentlich nicht. Aber als innerhalb weniger Minuten ein höllisches Bombardement begann, flitzten wir schnellstens in den Keller. Auch die Mama aus der Küche und die Leute, die das Haus besichtigten, liefen schnellstens in den Keller. Zum Glück in den unteren. Es dröhnte ohrenbetäubend. Das Licht ging aus, und nun waren die vielen Menschen in der Dunkelheit gefangen. Meine Mama, mein Bruder und ich faßten uns an den Händen und umklammerten eine Stützfeiler, um den unsere Arme gerade herumreichten. Mein Vater und ein Luftschutzwart waren wie gemöhnlich draußen, um die Lage zu observieren. Dann kam der Vollstreffer. Er erwischte das Haus genau in der Mitte, und beide Kelllerdecken verbogen sich zu einer tiefen Kerbe. Im Vertrauen darauf bauend, daß die Gefahr zunächst weitergezogen war, hörte man nur noch die entsetzlichen Einschläge und pfeifenden Bomben, aber unser Papa und der Luftschutzwart geleiteten die Menschen hinaus in die Ungewißheit. Wo unser Grundstück zuende war, stand eine halb hohe Mauer, die uns vom Grundstück der Feuerwehr in der Lindenstraße trennte. Dort gab es einen tiefen Luftschutzkeller, wo man zunächst mal in Sicherheit war.

Unser Wohnhaus blieb zunächst unversehrt, weil es zwischen zwei hohen Häusern stand. Es hatte keine Bombe abbekommen, aber durch den Qualm aus der Umgebung konnte man nicht atmen. Wir gingen zunächst noch in unsere Wohnung, aber dann zogen wir uns schnellstens ein paar Kleidungsstücke an und retteten uns auch zur Feuerwehr. Am Bombentrichter vorbei über Ziegel auf dem Rasen, durch die Rosenrabatte an Brandbomben vorbei, die noch nicht explodiert waren, vorbei zur Mauer, wo uns zwei Feuerwehrleute hinüber halfen.

Am darauffolgenden Tag begann unsere Odyssee.

Die Amerikaner hatten sich lange geweigert, die Zivilbevölkerung mit flächendeckenden Bombardements zu überziehen, aber schließlich gaben sie dem Drängen der Briten nach. Der Historiker M.Foedrowitz dokumentierte den Tag, der als „Operation Donnerschlag“ Eingang in die Geschichte fand. Die Moral der Deutschen sollte gebrochen werden, Flüchtlingsströme entstehen lassen und die Macht der alliierten Luftstreifkräfte eindrucksvoll demonstrieren. Ausgewählt wurde Leipzig, Chemnitz, Dresden und Berlin. Während General Eisenhauer sich lange Zeit sträubte und es unvertretbar fand, die Zivilbevölkerung zu bombardieren, gaben die Briten aber nicht nach.

Dieser Tag ist in meinem Gedächtnis unauslöschbar eingegraben und alles, was jemals in meinem Leben danach kam. Ich werde nichts vergessen. Nachtragen, Rache, Vergeltung, Heimzahlung, das sind nicht meine charakterlichen Eigenschaften.

Ich habe die Menschen studiert. Und darüber möchte ich lieber schweigen.

 

Berlin, den 3. Februar 2015  (3. Februar 1945)