SPLITTER (39)

Es war einmal vor langer Zeit……

Es ist schon eigenartig. Man durchforstet das Gedächtnis nach den schönen Erinnerungen und ist überrascht, wie wenig es doch gewesen sind. Wenn ich zurückdenke, waren es meine ersten vier Lebensjahre, die unbeschwert und glücklich waren. Ab dann aber war es ein immerwährender Überlebenskampf. In erster Linie auch um die Gesundheit und später durch Kriegsjahre, Nachkriegsjahre, Lebensumstände, Schicksalsschläge – was das Leben eben so bereit hält. Und für mich hat es reichlich bereitgehalten. „Die Starken tragen die Last“ hat mir einer gesagt, der es wissen muß.

Bei meinem letzten Krankenhausaufenthalt mußte ich die einzelnen Krankheiten angeben, die ich hatte. Aber die wollten sie von Anfang an wissen und haben sich von der AOK Auskunft erbeten. „Und, warum leben Sie noch!“ fragte mit gütigem Lächeln der Oberarzt? „Weil ich grundsätzlich nicht mache, was die Ärzte sagen.“ Und darüber könnte ich nun weißgott endlose Geschichten schreiben. Aber die interessieren sowieso keinen und ich habe auch wenig Lust, darüber nachzudenken. Nur mal so, der Ordnung halber.

Und deshalb bin ich guten Mutes, daß mir bestimmt noch allerhand einfallen wird, was sich lohnt, es zu erzählen. Das ist mir nämlich vor ein paar Tagen eingefallen, als ich in einer ollen Kramkiste (ich muß allerhand entsorgen, weil wegen dieser anstehenden Sanierung und Renovierung – ): Also, da war so ein alter vergilbter Bierdeckel von „Kindl“ drin mit dem „Berliner Kindl“ in dem Krug. Ja, und schon löste es eine ellenlange Geschichte aus, zumal sich später noch ein Aschenbecher aus Glas, auf dem ebenfalls ein Berliner Kindl prangte, angefunden hat.

Ich arbeitete damals in der Cuvrystraße, die ab der Kottbusser Brücke bis zur Hasenheide verläuft. Der Ehemann einer besonders netten Kollegin war Bierfahrer bei der Kindl-Brauerei. Zur damaligen Zeit wurde das Bier in großen Holzfässern, die von eisernen Ringen umgeben waren, transportiert. Es gab ja unzählige Kneipen, und die Bierfahrer hatten weiße Jacken an, eine lange Lederschürze um und rollten die großen schweren Fässer bis zu den Kellerfenstern unter den Gaststätten, wo sie dann auf einer besonderen Vorrichtung in den Keller rollten. Daher kam wohl auch der Name: „Rollkutscher“. Aus dem Keller wurde dann die Leitung zum Bierhahn angeschlossen. Die Brauereifahrzeuge waren große schwere offene Wagen, die voller Bierfässer geladen waren und wurden von vier starken Brauereipferden gezogen. Ich glaube, es waren Belgier. Schwere Pferde und strotzend vor Schönheit und Kraft. Sie hatten ein sehr schönes Ledergeschirr mit leuchtenden Messingscheiben und wenn sie durch die Straßen im Gleichschritt trabten – das war einfach Musik….

Die Kindl-Brauerei hatte während des Krieges auch sehr gelitten, wurde aber zum Teil, wie ich mich glaube erinnern zu können, In Neukölln in der Hermannstraße wieder aufgebaut. Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre, als wir noch in Kreuzberg wohnten,  haben wir natürlich alles wahrgenommen, was sich so im Umfeld abspielte, besonders in der Hasenheide. Darüber werde ich noch gerne schreiben. Aber nun zu meinen schönen Brauereipferden. Einmal im Jahr, ich weiß nicht mehr zu welchem Anlaß, vielleicht Bockbieranstich, machten die Brauereigespanne einen großen Umzug. Da waren auch Sechsspänner dabei. Die Pferde waren herausgeputzt, die Bierfahrer blendend weiß gekleidet, die Wagen eine Augenweide und das Hufgetrappel im Gleichschritt der vielen Pferde habe ich jetzt noch im Ohr, wenn es vom  Asphalt herauf klang.

Nun kann ich mich natürlich auch irren, denn die Schultheiß – Brauerei und andere haben wahrscheinlich auch ihre Umzüge gemacht, aber Kindl gehörte nun mal zu Kreuzberg-Neukölln, und in den Kindl-Festsälen in der Hasenheide, und ich glaube auch in der Hermannstraße, hatten wir viele Festivitäten besucht. Aber wie gesagt – das ist so lange her. So alt wird ja kein Schwein.

Aber in diesem Radius Kreuzberg-Neukölln gibt es noch viele Geschichten, die wir erlebten, mein Bruder und ich, denn das war eine zeitlang ja unser neues zuhause und man dachte nicht, daß man ihm noch einmal entfliehen könnte – aber dann kam der Umzug auf den Acker. Im wahrsten Sinne das Wortes, denn Lichtenrade war ein großes Dorf und unser Haus stand auf einem riesigen Kohlrabi- Feld.

Demnächst werde ich weitererzählen – jetzt habe ich erst mal Hunger.

Bis die Tage, Freunde

SPLITTER (38)

Mal bißchen was für das Gemüt

Gegen sechzehn Uhr haben die Gymnasien Schulschluß und in Sekundenschnelle sind alle Busse bis auf den letzten Zentimeter besetzt. Ich warte dann in der Regel auf den nächsten, mich treibt ja keiner. Aber viele Leute m ü s s e n ausgerechnet diesen Bus nehmen, obwohl der nächste schon unterwegs ist. Und diese Fahrgäste m ü s s e n nach Steglitz fahren, weil die Kaufhäuser noch eine Weile geöffnet haben. Na, ich bin froh, ich m u s s überhaupt nichts, nur ein paar Stationen zur Post in Mariendorf. Die ist nämlich ebenerdig, die in Lichtenrade hat eine unsympathische Treppe. Ich muß mal paar Päckchen aufgeben und einen dicken Brief abwiegen lassen. Briefmarken sind auch alle.

Direkt vor dem Eingang unterhalten sich ein paar junge Damen temperamentvoll über eine neue Lehrkraft. Ich klopfe mal nachdenklich meine Manteltaschen ab und sinniere und tue so, als ob ich etwas vermisse, denn es würde mir Gelegenheit verschaffen, das Gespräch über den Anlass der Erregung zu verfolgen. Aber leider wurde es sofort abgebrochen, weil man sich noch anderweitig informieren mußte und alle ihre Handys zückten, um weitere Klassenkameraden zu befragen. Na ja, in den Manteltaschen war nix und ich machte mich aus dem Staube. (Es war ja auch ein Staubmantel).

Und dann dachte ich plötzlich daran, wie wir uns damals in diesem Alter verhalten hatten. Es ist ja fast unglaublich; man war schließlich mal ein Teenager, aber zu meiner Zeit nicht einmal das. Da war man eine Jugendliche. „Die Jugendlichen“ hatte man schon immer gerne überall verscheucht. „Geht mal hier weg!“ war keine seltene Aufforderung, zumal eventuell auch noch gerne ein paar Jungen dabeistanden. Aber in den Nachkriegsjahren änderte sich dann doch eine Menge für uns „Jugendliche“, zumal wir das Glück hatten, im Westsektor und dann auch noch im amerikanischen Sektor zu wohnen. Und wir hatten unser kleines Radio. Und langsam wurde man kaum wahrnehmbar erwachsen. Ich habe gearbeitet seit ich 14 Jahre alt war.

Überhaupt nahm man an allen möglichen Unterhaltungen teil, „Jugendliche nur in Begleitung Erwachsener“ . In den Ballhäusern war „Eintritt für Herren“ ab 27, für Damen ab 21 und für „Jugendliche“ nur in Begleitung Erwachsener oder Erziehungsberechtigter. Da fielen einem eine Menge Tricks ein, um diese Bestimmungen zu umgehen. Viele Filme durften „Jugendliche unter 18 Jahren“ nicht ansehen. Das war schon alles spannend genug und dementsprechend wurde es auch niemals langweilig.

Dann kam die Zeit, wo man so seine Favoriten hatte, und man war wlld auf Autogramme. Na, das war nicht so meine Masche. Ich wollte keine Autogramme sammeln. „Bild‘ dir bloß nichts ein du Affe“, und von weiblichen Akteuren wollte ich erst recht kein Autogramm. Ich hatte ja durch unsere Verbindungen später einige Male Gelegenheit zu Begegnungen mit der Prominenz. Hatte vorbildlich geklappt, auch ohne Autogramme. Aber die Schulkameradinnen tauschten Fotos, Unterschriften, berichteten mit strahlenden Augen von Begegnungen – „Bleibense bedeckt.“ Das war auch so ein Berliner Spruch. – Sie brauchen nicht den Hut zu ziehen – bedeutete das. Nun ja, manches war gut, manches nicht – es bedeutete letztendlich den inzwischen totalen Verlust von Höflichkeiten und Umgangsformen.

Und dann begann bei mir die Phase der Leidenschaft und enthusiastischen Begeisterung für den Boxsport. Wir wohnten damals in Reinickendorf und einige Jungen, mit denen wir früher mal zusammen in eine Klasse gingen, schmissen nur so mit Fachausdrücken um sich herum. Wir trafen uns oft Müller- Ecke Seestraße in Wedding. Natürlich gab es stürmische Auseinandersetzungen, wer nun recht hatte oder nicht. Das soll ich heute noch wissen? Nee, weiß ich nicht mehr. Aber ich schwärmte hingerissen von Conny Rux, der mindestens 10 Jahre älter war als ich, aber doch mehr oder weniger noch ein junger Spund. Ein Halbschwergewicht. Ein Dauersieger in seiner Gewichtsklasse soweit ich mich erinnern kann und ein ewiger Anlaß zu Streit.

Unser zweiter Gegenstand maßloser Verehrung war Bubi Scholz, Der machte auch Karriere mit Steilvorlage, war aber glaube ich ein Schwergewicht. Also diese beiden haben uns reichlich beschäftigt. Muß alles so in den fünfziger Jahren vonstatten gegangen sein, denn 1966 zogen wir nach Lichtenrade am entgegengesetzten Ende von Reinickendorf. Und Anfang der Fünfziger erst mal von Reinickendorf nach Kreuzberg. Und bis 1945 wohnten wir in Berlin Zentrum sozusagen.

Lichtenrade war damals ein Dorf. Aber die Straßenbahn fuhr nach Mariendorf, und da war die Rennbahn. Da ist sie immer noch, aber jetzt habe ich da auch keine rechte Lust mehr. Es ist eben alles anders. Nicht besser, nicht schlechter – anders eben. Dann denke ich auch ab und zu an meinen Papa, den alten Schöneberger, wenn er aus seinen Jugendtagen erzählt hat. Da waren es nun auch wieder ganz andere Lebensumstände und Voraussetzungen. Zusammen mit Onkel Gustav, den Sandkastenfreund aus Kindertagen: Wie sie als Junge Männer im Lunapark als Karussellschieber sich ihr Taschengeld verdient haben. Und wie mein Papa in Rixdorf auf dem Tanzboden „Maitre de Plaisier“ war, denn man mußte 5 Pfennige bezahlen, wenn man auf den Tanzboden wollte.

Na ja, bißchen weiter sind wir ja wohl doch schon, was?