SPLITTER (55)

Schaufensterbummel

Die Zeiten ändern sich – das ist ja nun mal nicht von der Hand zu weisen. Und auch die Ansichten ändern sich. Ganz unbemerkt zuweilen. Der eine sagt: nimm dir ‘nen Schirm mit, wenn Regen angesagt ist, der andere rät: stell dich einfach irgendwo unter. Also, nicht nur die Zeiten ändern sich, die Menschen auch.

Als ich noch Kind war und an der Hand der Oma durch die Leipziger Straße flanierte, oder über den Spittelmarkt in die andere Richtung zum Alex, sahen wir uns stets begeistert und aufmerksam die Schaufenster an. Gegen das grelle Sonnenlicht, daß die Farben der Stoffe und anderer Auslagen schnell erblassen ließ, war an vielen Schaufenstern von innen ein durchsichtiges gelbes Rolleau angebracht, um die Waren zu schützen.

Auf dem Heimweg saßen wir zur Entspannung gern mal auf einer Bank auf dem Dönhoff-Platz oder machten einen kleinen Abstecher zum Hausvogteiplatz. Das war noch eine Zeit, bevor der Ernst des Lebens, sprich Schule, begann. Unterwegs hatten wir uns stets angeregt unterhalten, das heißt, ich fragte der Oma „Löcher in den Bauch“, wie diese Redensart heißt, und ich hörte aufmerksam zu. Es gab doch viel zu fragen, um schließlich auch viel zu wissen.  Dann sagte der Papa beim Abendessen schon mal: „Ja ja, du hörst das Gras wachsen“, wenn ich vom Ausflug mit der Oma erzählte und meine gewonnenen Eindrücke erläuterte.

Inzwischen wurde es Krieg, und durch die aufregende Leipziger Straße mit den schönen Geschäften und Kaufhäusern flanierten (nicht nur) am Wochenende die Offiziere mit ihren Damen. Da gingen wir ziemlich selten nur noch bis zur Friedrichstraße bis Unter den Linden, und dann durch das Brandenburger Tor in den Tiergarten. Ein paar Jahre später, als der Krieg in vollem Gange war, sah man keine dekorierten Schaufenster mehr und verzichtete längst auf einen Bummel, falls einen unterwegs ein Fliegeralarm erwischen sollte und es in der Nähe keinen Bunker oder andere Sicherheitsräume gab.

Nun ja: alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei – während der unmittelbaren Nachkriegszeit war die Welt ziemlich grau und man entbehrte auf jeden Fall Farben. Aber auch diese Zeit ging einigermaßen an uns vorbei – wir überlebten. Mehr schlecht als recht, aber immerhin. Es gab genug Schieber und Kriegsgewinnler, aber auch reichlich, wie immer, die Verlierer. „Augen zu und durch“ war eine gute Parole. Wir lebten nun in Kreuzberg, wo durch die Bomben noch ziemlich viel zerstört, und trotz Aufräumungsarbeiten noch sehr viele Trümmergrundstücke vorhanden waren. Unsere Flaniermeile ersetzte nun der Kottbusser Damm und ein Teil der damals glaube ich noch Bergstraße, inzwischen Karl-Marx-Straße genannten Erlebnismeile. Ein kurzer Teil der Sonnenallee floß ebenfalls mit ein, so wie die Hermannstraße, die wir auch sehr oft frequentierten, um zum Friedhof zu gelangen, auf dem ein Anteil der verstorbenen Familienangehörigen begraben war.

Man wurde älter, langsam veränderte sich das Umfeld, obwohl es noch reichlich Kriegsschäden gab. Und gerne machten wir in den späteren Jahren einen Bummel über die Tauentzien und den Ku-Damm rauf und runter. Da war es hell, da war es bunt, da war es teuer, verlockend und geschmackvoll. Und selbst wenn man wußte, daß man dort niemals dazu gehören könnte oder würde, erfreute man sich an den herrlichen Auslagen, Garderoben, Accessoires, Lederwaren, Schuhen, Restaurants. Da war man noch meilenweit entfernt, bevor man selbst eines Tages, nicht gerade dazu gehörte, aber doch einen kleinen Teil des Kuchens abschneiden konnte. Wir sahen gerne die Schaufenster vom KaDeWe an, träumten von eleganten Garderoben und ahnten, daß wir eines Tages wirklich „erwachsen wären“ und uns vielleicht auch etwas leisten könnten.

Auch die Schaufenster haben sich inzwischen frappant verändert. Es kommt vor, daß man überhaupt keine Lust hat, sie anzusehen. Ich benutze in jedem Falle ein paar Marken, die ich nie gewechselt habe und die in all den Jahren gleichbleibend gut und gediegen sind. Nur ein paar mal habe ich andere „Marken“ ausprobiert. Ich kaufe nie wieder Verpackung. Das muß man auch lernen – und es tut weh. Immerhin, eine ziemliche Zeitspanne ist inzwischen vergangen, und die Vorstellung, wie alles einmal war, ist längst passeé. Wer davon betroffen war, will von der Vergangenheit sowieso nichts mehr hören, und wer die Zeit nicht kannte, erst recht nicht. Und von den betroffenen ist ja wohl auch kaum noch jemand da, der ein Mitteilungsbedürfnis hat. Also, ich hab das auch nicht. Es ist so viel geschrieben worden, kann man alles nachlesen. Ob man alles glaubt, ist wie immer jedem selbst überlassen. Ich lese gerne in den drei Bänden von Tausendundeine Nacht. Da sind wirklich 1001 Geschichten erzählt. Aber ehrlich – ich   g l a u b e   davon nicht eine. Eben. Es sind ja Geschichten.

Vor einigen Tagen kam ich etwas spät von einer Verabredung zurück und wollte zur U-Bahnstation Richtung Rudow. Dann kann ich ganz bequem umsteigen. Es war noch nicht so richtig finster und in den Schaufenstern des Kaufhauses brannte Licht. Na bummel ruhig, ist ja noch nicht so spät, dachte ich und trottete gemächlich an den Schaufenstern vorbei. Schöne Dekorationen. Camping-Motive, tolle Ausrüstungen, Anglerparadies, passene Kluft und Netze aufgespannt mit Fischen darin. Urlaub am Meer, Seesterne, Segelboote im angedeuteten Hintergrund. Fröhliche Kinder, zum Teil im Sandkasten, mit allerlei Freizeit Gestaltungsmöglichkeiten. Kleinkinderausstattungen mit allen nur erdenklichen Schikanen. Eine Wohlstandsdokumentation, ohne Frage. Dann bog ich um die Ecke in die schmalere Straße, und da waren die fleißigen Dekorateure noch am Werk. Die Fenster waren nicht verhangen, nur zwei oder drei.

Man war dabei, auch für die Erwachsenen interessante Eindrücke zu vermitteln, um die Passanten zum Kauf zu animieren. Zum Beispiel mit Strandleben. Ein braungebrannter Adonis mit Kurzhaarschnitt und ordendlich Muskeln lehnte sich in einer superknappen Badehose an den Erfrischungsstand und trank wahrscheinlich einen Zitronensaft. Eine elfenzarte Nixe im besonders sparsamen Bikini strahlte ihn an und streckte die Hand aus, da der Mixer hinter dem Erfrischungsstand gerade einen neuen Drink fabrizierte. Na ja, noch einige Situationen wurden in den einzelnen Schaufenstern demonstriert und machten doch tatsächlich Laune auf Urlaub.

Die letzten beiden Schaufenster waren nicht verhängt. Die dachten betimmt nicht daran, daß dort noch jemand um diese Zeit vorbeikommen würde. Einige Torsi, männlich oder weiblich, lagen am Boden, in einem Karton lagen verschiedene Köpfe, Kahl, die später bestimmt „Frisuren“ übergestülpt bekamen. Im Hintergrund übereinander gelegte Plastik- Körperteile. Arme, Beine,  und auch noch ein paar Köpfe, Plastiktüten, Leitern, Kartons, Füllmaterial -und dazwischen turnten ein paar Dekorateure umher,  wahrscheinlich, um sich nun etwas Neues auszudenken. Zunächst fand ich diese Situation absolut erheiternd, und wir lächelten uns durch die Schaufensterscheibe zu.

Die jungen Dekorateure und Dekorateurinnen kasperten mit den Utensilien herum und ich mußte lachen. Aber plötzlich schüttelte es mich und mir wurde eiskalt auf dem Rücken. Ich setzte mich auf dem leeren Bahnsteig auf eine Bank und wartete auf den passenden Zug. Ja, so war es. Das war eine plötzliche Erkenntnis, die mich das Grauen lehrte. Denn im Hintergrund wirkten die Zertörer, die Gefühllosen, die Macher. Sie entschieden, wer oder was von den ganzen noch für eine Daseinsberechtigung verbliebenen Resten auserkoren wird, im Schaufenster zu stehen und etwas nach aussen zu transportieren. Aber was hinter dem Vorhang passiert – das wissen wir nicht, und wir dürfen es ja auch nicht wissen. Wir werden es nicht wirklich erfahren und die meisten Menschen wollen überhaupt nichts erfahren. Man will leben. Im Schaufenster stehen. Vorne. Aber da ist kein Gott zuständig.Der ist an Dekorationen nicht interessiert. Aber es ist wie es ist. Und wir bemerken es nicht. Oder wollen nicht….

Aus den einzelnen genannten Gründen hängt man schon seit ziemlich langer Zeit beim dekorieren die Schaufenster zu. Wir stehen vor dem Fenster, die fremdbestimmten und ausgewählten stehen hinter dem Fenster, und die Macher bleiben gewöhnlich im Hintergrund.

Schaufensterbummeln ist längst aus der Mode gekommen. Und außerden: ich finde, man bummelt heutzutage gar nicht mehr. Man latscht…..

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