Als Berlin noch eine geteilte Stadt war, ergaben sich nicht allzu viele Gelegenheiten, mal auf die Schnelle ein bißchen zu verreisen, um dem Großstadtleben zu entfliehen. Ich hatte ein paar gute Bekannte in Bad Harzburg, und so hatte ich mit den Kindern öfter Gelegenheit, ab und an vierzehn Tage auszuspannen, wenn dann zu dieser Zeit schulfrei war. Auch die Busfahrt klappte meistens reibungslos.
Tochter und Freundin amüsierten sich auf ihre Weise und knüpften Bekanntschaften, ich amüsierte mich wie immer auf meine Weise, ging abseitige Wege und hörte den Leuten zu, oder saß irgendwo in einem Park oder Kaffeegarten und las.
Inzwischen habe ich längst vergessen, wie der große Platz hieß, an dem die Busse hielten. Dort gab es ein Café/Restaurant mit einem ziemlich großen Vorgarten, der aber meistens nur zu bestimmten Zeiten wirklich voller Gäste war. Und dort fand ich zu meiner Freude einen Tisch an der Außenseite und rundherum war alles leer und absolut ruhig. Und die Sonne schien und das „Leben“ konnte man etwas entfernt vorbeiziehen sehen. Wohlig lehnte ich mich in meinen Stuhl zurück, und die Serviererin ging lächelnd an mir vorbei und sagte: “Ich komme gleich zu Ihnen!!“
Plötzlich aus dem Nichts erschien ein altes Ehepaar, zog sich gleichzeitig zwei Stühle heran und fragte: “Is hier noch frei?“ und noch ehe der kurze Satz ausgesprochen war, hatten sie schon Platz genommen. Ich hätte gerne ostentativ den Tisch verlassen, aber weil ich tatsächlich mal Erziehung genossen hatte, nahm ich davon Abstand. Die Bedienung trat inzwischen leicht verwirrt an den Tisch, und die alten Leutchen trompeteten ihre Bestellung bereits in ihre Richtung. Ich wollte Pflaumenkuchen mit Sahne und Kaffee. Auf dem Tisch befand sich ein durchsichtiger Plastikständer mit der Speisekarte und eine gesonderte Karte für Eis, einen Prospekt über Bad Harzburg und Umgebung, ein Salz/Pfeffer/Senf-Ständer und ein Zuckerstreuer. Einer von diesen, die mit einem Röhrchen nach innen versehen sind, so daß man den Zucker gezielt in die Tasse streuen konnte.
Rechts neben mir, an der Schmalseite, hatte der Opa Platz genommen, mit gegenüber saß seine Frau. Sie hielten sich bei der Hand, und schon überkam mich heftige Rührung. Bisher hatten sie geschwiegen, aber ihr Gedeck war inzwischen auch gekommen und ich merkte an dem kurzen Gespräch mit der Serviererin, daß es zwei urwüchsige Berliner waren. Na, da tat ich ganz uninteressiert und so, als ob ich mit den Gedanken bei meinem Pflaumenkuchen wäre. Nun, das wurde auch umgehend Realität, denn eine Wespe näherte sich. Ach, zunächst war es nur eine, aber in der Nähe warteten garantiert noch ein Paar Artgenossen. „Mein Pflaumenkuchen!* Diese eine aber machte kurze Rast auf meinem Teller, zeigte wenig Interesse an Pflaumenkuchen und Sahne und nahm Platz auf dem Röhrchen vom Zuckerstreuer. Meine Tischgenossen bevorzugten die langsame, getragene Redeweise, bei der man ständig die Befürchtung hegte, sie wären kurz vorm Einschlafen.
„Mensch kiekma Oschi. Oschi, kiekma – die Wespe. Kiekma wat die Wespe macht. An den Szuckanapp“
„Trudchen, dit is wie in Bad Grund. Weeßte nich mehr? Da war doch ooch so‘ ne Wespe.“
„Ja, jetz weeß ick wieda. Da hattense ooch sonne Szuckanäppe.
Und denn wollte die Wespe ooch da rin. Aber denn….“
“Kuckma, kuckedochma, wenn se so weiter macht, fällt‘se doch rin….
wie in Bad Grund. Die is ja ooch ringefallen.“
Als die Wespe „rinjefallen“ war, sahen mich die Beiden hilflos und wortlos an. Ich grinste, schüttelte ein bißchen den Szuckanapp und erntete ein freundliches Kopfnicken. Die Wespe war allerdings ein bißchen doof und versuchte auf der Stelle, wieder in das Röhrchen reinzukriechen. Verfressnes Ding.
„ Du, Oschi, weeßte noch in Hahnenklee, wo dit mit den Appel-kuchen war. Da war jo ooch soone Wespe. Die ist ja ooch andauernd um den Szuckanapp jeflogen. Und denn hat‘se ooch uff dein Tella jesessen, weeßte noch?“ „Jaha, weeß ick. Aber da war ja nich nur eene Wespe, da sind ja denn noch welche anjekommen. Und von den Kleenen seine verschüttete Cola wo die Fütze uff‘n Tisch war, sind die immer durchjeloofen!“
„Du Oschi, Kiek ma, die Wespe! Die fällt gleich wieder rin!“ „Na lasse doch, wennse so doof is.“ „Du Oschi, weeßte noch, in Bad Sachsa?“ „Wat meenste denn, die Wespen oder den Szuckernapp?“ „Na, ick meene die komischen Szuckanäppe, wo immer sonne kleene Klappe uffjejangen is. Ulkig. Aber Szucker is ja rausjekommen.“ „Jahaha, da habe ick immer druff jewartet, det die Klappe mal die Wespe uff die Bonje fällt!“ „Ach, Oschi!“
„Siehste Trudchen, nu isse wieda rinjefallen.!“ und zu mir: “Könntn‘se fleicht nochma?“ Aber selbstredend. Klar, kannick doch!
„Du Oschi, in Goslar hattense keene Szuckanäppe, da jab et nur sonne Tütkins mit Szucka, wo noch son Bild druff war, damit man weeß, wo man is. Szuckanäppe hattense da nich.“ „Trudchen, det war ja ooch een Hotel. Da habense eben Tütchins. Da kann eben keene Wespe rinkrabbeln.“ „Ach, deshalb?“
So klein ist der Harz ja doch auch wieder nicht. Bevor ich über die Ausstattung mit Zuckernäpfen der Gastronomie in den übrigen Ferienorten Informationen sammeln konnte, zog ich es vor, nun langsam aufzubrechen. Die Wespe war auch weg. Entweder gelang ihr die Flucht oder sie lag bewußtlos im Szuckanapp.
Bemerkenswert aber finde ich, wie oft damals die Berliner in den Harz gefahren sind, um sich ein bißchen zu erholen. Über Helmstedt – wo auch der Bus erst mal hielt, man durchgeatmet hat und Kaffee trinken konnte. Oder die jungen Leute mit dem Motorrad eine Spritztour machten, bis Helmstedt, Kaffee trinken und zurück.
Berlin, den 6.7.2013/Lewi