Kleine Ursache, große Wirkung

Kleine Ursache, große Wirkung

Es fing so harmlos an. Mit einer simplen Fliege, die mich mit ihrer Penetranz zum rasen brachte. Sie ist noch da, aber derzeit unsichtbar. Die zweite hatte rechtzeitig das Angebot angenommen und ist durch das geöffnete Fenster entschwunden. Und plötzlich hatte ich es mit den Fliegen. „Die Fliege“ war doch mal so ein Horrorfilm, wo ein Professor Experimente machte und die Fliege dann einen Menschenkopf hatte. Und „Herr der Fliegen“ war der Titel des umstrittenen Buches. Und Sartres „Die Fliegen“ gehörte der Nachkriegszeit an und ist fest mit Erinnerungen an diese verknüpft.

Nach 1945 war das Leben in einer Viersektorenstadt äußerst aufregend und unwahrscheinlich kulturell. Die Besatzer überchlugen sich mit der Verbreitung ihrer Filmkunst, und trotz Stromsperre, die bezirksweise für zwei Stunden galt, konnte man drei Filme an einem Abend sehen, vorausgesetzt, man schaffte es, in den nächsten Bezirk zu eilen. Das war nicht immer ein Stadtbezirk, sondern der nächste Bezirk, wo es für zwei Stunden Strom gab. Und das Eintrittsgeld mußte man sich eben absparen, indem man auf vieles oder alles verzichtete. Die Theater hatten wunderbare Schauspieler und wunderbare Stücke zum aufführen, und in den Bars konnte man wunderbare Musik hören. Und in den Theatern spielten die besten Schauspieler, die berühmtesten Sänger gaben Gastrollen in der Oper. Ganz besonders hatten es die Russen mit Kultura und dafür sehr viel übrig, und die Amis brachten halt die tollste Musik mit und die Zigaretten, die man dann auf dem schwarzen Markt bekam. Beziehungen hatte wir keine, aber ein großes Unterhaltungsprogramm.

Aber in die Zeit fallen auch die Aufführungen von „Die Fliegen“ von Jean-Paul Sartre, der glaube ich, einen ganzen Zeitabschnitt dominierte. Eigentlich hatte er dieses aufrührerische Stück zur Unterstüzung der Volksseele seiner Landsleute geschrieben, um sie zu ermuntern, daß nach Untergang auf jeden Fall ein neuer Anfang eintritt bzw, eintreten muß. So ungefähr. Und die antiken Dramen liefern ja nun fast zu jeder Gelegenheit oder Situationen(schon unter der ständigen Einbeziehung der Götter) eine dankbar und denkbare Grundlage und Vergleiche.

Dann spannt sich der gedankliche Bogen zu der Zeit der Besetzung Frankreichs, wo die Offiziere, die in Berlin auf Urlaub waren, in ihren schicken Ausgehuniformen, die Gattin untergehakt, über die Leipziger Straße flanierten. Die Damen sämtlich im Kostüm und den Fuchs um den Hals. Der Fuchspelz war eine Siegestrophäe aus Frankreich. Die Berliner Luft roch nach Autos, Benzin und Parfüm. Das war wie ein Narkotikum. „Wenn ich groß bin, möchte ich gerne einen Flieger haben“ hatte ich meiner Oma anvertraut. Die gefielen mir in ihrer Uniform am besten.

Nach Agamemnons Tod und der Verschleppung des Orest erfolgt eine lange Zeit der Knechtung und Unterdrückung des Volkes. Das Volk ist unwissend, weil es nicht weiß, daß es frei ist. Und selbst Jupiter sagt, gegen einen freien Geist sind auch die Götter oder der Gott machtlos. Die ganze Atridengeschichte ist lang und blutig, aber welche Geschichte in dieser Welt ist nicht lang und blutig. Ja und die Fliegen, symbolisch, die haben wir ja ebenfalls reichlich. „In der Stadt wimmelt es von Fliegen“ heißt es, und drei davon sind die Erynien.

Ja, ich wäre dafür, „Die Fliegen“ wieder aufzuführen.
Und meine hat soeben gelassen den Text inspiziert, und da sie nicht auf den Bildschirm gekackt hat, ist sie wohl mit allem einverstanden. Ich lasse ihr auch die Gelegenheit eines natürlichen Todes. Lewi